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Oberlandesgericht Karlsruhe, Urteil vom 29.11.2012
12 U 60/12, 12 U 61/12, 12 U 62/12, 12 U 63/12 -

Straftäter erhalten Entschädigung für überlange Sicherungsverwahrung

Europäische Menschenrechtskonvention gewährt Betroffenen bei widerrechtlich beschränkter Freiheit unmittelbaren Schadensersatzanspruch

Das Landgericht Karlsruhe hat vier Straftätern, die in den 70er und 80er Jahren wegen versuchten Mordes, Vergewaltigung und anderer Straftaten zu langen Freiheitsstrafen verurteilt worden waren und gegen die anschließende Sicherungsverwahrung angeordnet worden war, gemäß Art. 5 Abs. 5 EMRK Entschädigungsansprüche gegen das Land Baden-Württemberg wegen überlanger Sicherungsverwahrung in Höhe von 49.000 bis 73.000 Euro zugesprochen.

In den zugrunde liegenden Strafurteilen war in allen Fällen gleichzeitig anschließende Sicherungsverwahrung angeordnet worden, die nach der damals geltenden Fassung von § 67 d Abs. 1 StGB 10 Jahre nicht überschreiten durfte, nach Ablauf der Höchstfrist waren die Untergebrachten zu entlassen.

OLG stellt Erledigung der Sicherungsverwahrung fest und ordnet Führungsaufsicht und Bewährungshilfe an

Als diese Höchstfrist durch eine Gesetzesänderung ab dem 31. Januar 1998 entfiel, verblieben die Verurteilten über die 10 Jahre hinaus weiter in Sicherungshaft. Unter Berücksichtigung der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17. Dezember 2009, wonach die Gesetzesänderung von 1998 gegen das Rückwirkungsverbot verstößt, stellte das Oberlandesgericht Karlsruhe die Erledigung der Sicherungsverwahrung fest und ordnete stattdessen Führungsaufsicht und Bewährungshilfe an.

Straftäter fordern Schmerzensgeld vom Land Baden-Württemberg

Die Verurteilten wurden alle aus der Sicherungsverwahrung entlassen. Für den 10 Jahre überschreitenden Zeitraum der Sicherungsverwahrung fordern sie Schmerzensgeld vom Land Baden-Württemberg. Gegen die einen Teil der begehrten Summen zusprechenden Urteile des Landgerichts Karlsruhe hat das Land Baden-Württemberg Berufung eingelegt.

Entschädigungsanspruch kann unmittelbar vor nationalen Gerichten geltend gemacht werden

Das Oberlandesgericht Karlsruhe wies die Berufungen des beklagten Landes zurück. Die Entscheidung des Landgerichts sei in der Begründung wie im Ergebnis zutreffend. Das Gericht stellte fest, dass sich die Schadensersatzansprüche der Kläger unmittelbar aus Art. 5 Abs. 5 EMRK ergäben. Die Europäische Menschenrechtskonvention gelte innerstaatlich mit Gesetzeskraft und gewähre in Art. 5 Abs. 5 EMRK dem Betroffenen einen unmittelbaren Schadensersatzanspruch, wenn seine Freiheit Art. 5 Abs. 1 EMRK zuwider beschränkt worden sei. Dieser Entschädigungsanspruch könne in den Vertragsstaaten, die die Konvention und ihre Zusatzprotokolle in innerstaatliches Recht übernommen hätten, unmittelbar vor den nationalen Gerichten geltend gemacht werden. Zutreffend habe das Landgericht das beklagte Land Baden-Württemberg als Anspruchsverpflichteten betrachtet, zwar hätten bundesrechtliche Vorschriften den Freiheitsentzug nach Ablauf der früheren Höchstfrist ermöglicht, der unmittelbare Eingriff in das Freiheitsrecht habe sich jedoch erst aus der Anordnung der Verlängerung sowie dem Vollzug der Sicherungsverwahrung ergeben, die durch die Vollstreckungsbehörden des Landes erfolgt seien.

Fortdauer der Sicherungsverwahrung stellt rechtswidrige Freiheitsentziehung im Sinne von Art. 5 Abs. 5 EMRK dar

Die Anordnung der Fortdauer der Sicherungsverwahrung auf der Grundlage von § 67 d Abs. 3 StGB (in der Fassung von 1998) und deren Vollzug nach Ablauf der in den Urteilen verhängten erstmaligen 10-jährigen Sicherungsverwahrung stelle eine rechtswidrige Freiheitsentziehung im Sinne von Art. 5 Abs. 5 EMRK dar. Ein Verschulden der innerstaatlichen Organe setze diese als Gefährdungshaftung ausgestaltete Schadensersatzpflicht nicht voraus. Entgegen der Auffassung des beklagten Landes gebe es keine Einschränkung der Schadensersatzpflicht in zeitlicher Hinsicht, die Rechtswidrigkeit des Eingriffs bedürfe keiner darauf bezogenen konstitutiven Feststellung. Die Beschränkung der Schadensersatzpflicht auf Freiheitsentziehung erst nach Feststellung ihrer Konventionswidrigkeit würde Art. 5 Abs. 5 EMRK seines wesentlichen Anwendungsbereichs berauben, da die gerichtliche Feststellung der Konventionswidrigkeit dem Eingriff in der Regel nachzufolgen pflege, oftmals auch zu einem Zeitpunkt erfolge, zu dem die Freiheitsentziehung bereits beendet sei.

Entschädigungsanspruch setzt kein Verschulden voraus

Der Entschädigungsanspruch setze kein Verschulden voraus. Deshalb komme es nicht darauf an, dass die Anordnung der Fortdauer der Sicherungsverwahrung der damaligen Rechtslage entsprochen habe, von der höchstrichterlichen Rechtsprechung zunächst nicht beanstandet worden sei und die Vollstreckungsbehörden der Beklagten verpflichtet gewesen seien, die verlängerte Sicherungsverwahrung zu vollstrecken. Das Vertrauen des beklagten Landes auf die Rechtmäßigkeit der von ihm angewandten Vorschriften sei gegenüber dem Interesse des Einzelnen, dass in sein Freiheitsrecht von Konventionsorganen oder innerstaatlichen Organen nicht sanktionslos rechtswidrig eingegriffen werden dürfe, unbeachtlich. Die vom Landgericht zugebilligten immateriellen Schadensersatzansprüche seien nicht zu beanstanden. Das Landgericht habe eine immaterielle Entschädigung in Höhe von 500 Euro pro Monat als angemessen betrachtet. Dies sei unter Heranziehung der Bemessungspraxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in vergleichbaren Fällen nicht zu beanstanden.

Art. 5 EMRK:

Recht auf Freiheit und Sicherheit

(1) Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Die Freiheit darf nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden:

[...]

(5) Jede Person, die unter Verletzung dieses Artikels von Festnahme oder Freiheitsentziehung betroffen ist, hat Anspruch auf Schadensersatz.

© kostenlose-urteile.de (ra-online GmbH), Berlin 03.12.2012
Quelle: Oberlandesgericht Karlsruhe/ra-online

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