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Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil vom 05.04.2016
C-404/15 und C-659/15 -

Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls muss bei drohender unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung aufgeschoben werden

Bei unmöglicher Beseitigung der Gefahr innerhalb einer angemessenen Frist muss Behörde über mögliche Beendigung des Übergabeverfahrens entscheiden

Die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls muss aufgeschoben werden, wenn für die betreffende Person aufgrund der Haftbedingungen in dem Mitgliedstaat, in dem der Haftbefehl ausgestellt wurde, eine echte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung besteht. Kann das Vorliegen einer solchen Gefahr nicht innerhalb einer angemessenen Frist ausgeschlossen werden, muss die mit der Vollstreckung des Haftbefehls betraute Behörde darüber entscheiden, ob das Übergabeverfahren zu beenden ist. Dies entschied der Gerichtshof der Europäischen Union.

In der Rechtssache C-404/15 hat ein ungarischer Ermittlungsrichter gegen Herrn Pál Aranyosi, einen ungarischen Staatsangehörigen, zur Ermöglichung seiner strafrechtlichen Verfolgung wegen zwei Einbruchdiebstählen, die er in Ungarn begangen haben soll, zwei Europäische Haftbefehle erlassen.

In der Rechtssache C-659/15 PPU hat ein rumänisches Gericht gegen Herrn Robert Cãldãraru einen Europäischen Haftbefehl erlassen, weil er in Rumänien eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis verbüßen soll.

Da beide Personen in Deutschland festgenommen wurden, ist es Sache der deutschen Behörden, die Haftbefehle zu prüfen.

Haftbedingungen in ungarischen bzw. rumänischen Haftanstalten verstoßen voraussichtlich gegen menschliche Grundrechte

Nach den Erkenntnissen des mit der Frage, ob die Haftbefehle zu vollstrecken sind, befassten Hanseatischen Oberlandesgerichts in Bremen verstoßen die Haftbedingungen, denen Herr Aranyosi und Herr Cãldãraru in ungarischen bzw. rumänischen Haftanstalten unterliegen könnten, gegen die Grundrechte, insbesondere gegen das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat nämlich Rumänien und Ungarn mit Urteilen vom 10. Juni 2014 und vom 10. März 2015 zur Last gelegt, aufgrund der Überbelegung ihrer Haftanstalten gegen die Grundrechte verstoßen zu haben.

OLG erbittet Vorabentscheidung des EuGH über mögliche Ablehnung der Vollstreckung Europäischer Haftbefehle

Das Hanseatische Oberlandesgericht in Bremen möchte vom Gerichtshof der Europäischen Union wissen, ob unter solchen Umständen die Vollstreckung Europäischer Haftbefehle abgelehnt oder davon abhängig gemacht werden kann oder muss, dass der Ausstellungsmitgliedstaat Informationen erteilt, die es ermöglichen, die Vereinbarkeit der Haftbedingungen mit den Grundrechten zu überprüfen.

Da sich Herr Cãldãraru derzeit in Deutschland in Haft befindet, ist in seinem Fall das in der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vorgesehene Eilvorabentscheidungsverfahren angewandt worden. Da sich Herr Aranyosi derzeit nicht in Haft befindet, ist in seinem Fall dieses Verfahren nicht angewandt worden. Da beide Rechtssachen den gleichen Gegenstand betreffen, hat der Gerichtshof gleichwohl entschieden, sie zu gemeinsamem Urteil zu verbinden.

Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung gehört zu unionsrechtlich geschützten Grundrechten

In seinem Urteil weist der Gerichtshof darauf hin, dass das absolute Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung zu den vom Unionsrecht geschützten Grundrechten gehört. Sofern die für die Vollstreckung des Haftbefehls zuständige Behörde über Anhaltspunkte dafür verfügt, dass eine echte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung von Häftlingen im Ausstellungsmitgliedstaat besteht, muss sie daher diese Gefahr würdigen, bevor sie über die Übergabe der betreffenden Person entscheidet.

Möglichkeit unzulänglicher Haftbedingungen führt nicht automatisch zur Ablehnung der Vollstreckung des Haftbefehls

Ergibt sich eine solche Gefahr aus den allgemeinen Haftbedingungen im betreffenden Mitgliedstaat, kann die Feststellung ihres Vorliegens für sich genommen nicht zur Ablehnung der Vollstreckung des Haftbefehls führen. Vielmehr muss dargetan werden, dass es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass der Betroffene aufgrund der Bedingungen seiner beabsichtigten Inhaftierung tatsächlich einer solchen Gefahr ausgesetzt sein wird.

Behörden müssen unverzüglich alle Informationen zu Haftbedingungen erbitten

Um beurteilen zu können, ob dies bei dem Betroffenen der Fall ist, muss die für die Vollstreckung des Haftbefehls zuständige Behörde die ausstellende Behörde um die unverzügliche Übermittlung aller notwendigen Informationen in Bezug auf die Haftbedingungen bitten.

Bei Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ist Haftbefehl aufzuschieben

Stellt die für die Vollstreckung des Haftbefehls zuständige Behörde anhand der erteilten Informationen oder aller übrigen Informationen, über die sie verfügt, fest, dass für die Person, gegen die sich der Haftbefehl richtet, eine echte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung besteht, muss sie die Vollstreckung des Haftbefehls aufschieben, bis sie zusätzliche Informationen erhalten hat, die es ihr gestatten, das Vorliegen einer solchen Gefahr auszuschließen. Kann das Vorliegen einer solchen Gefahr nicht innerhalb einer angemessenen Frist ausgeschlossen werden, muss die Behörde darüber entscheiden, ob das Übergabeverfahren zu beenden ist.

© kostenlose-urteile.de (ra-online GmbH), Berlin 12.04.2016
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online

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