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Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil vom 06.09.2016
C-182/15 -

Mitgliedsstaat darf eigene Staatsangehörige besser vor Auslieferungen an Drittstaaten schützen als andere Unionsbürger

Herkunfts­mitglieds­staat muss Gelegenheit zur Beantragung der Übergabe des Bürgers zu Verfolgungszwecken ermöglicht werden

Ein Mitgliedstaat ist nicht verpflichtet, alle Unionsbürger, die sich in seinem Hoheitsgebiet aufhalten, in gleichem Maß vor Auslieferung zu schützen wie seine eigenen Staatsangehörigen. Vor einer Auslieferung muss der betreffende Mitgliedstaat jedoch den Informations­austausch mit dem Herkunfts­mitglied­staat des Bürgers suchen und diesem Staat Gelegenheit geben, die Übergabe des Bürgers zu Verfolgungszwecken zu beantragen. Dies geht aus einer Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union hervor.

Dem Verfahren lag folgender Sachverhalt zugrunde: Herr Aleksei Petruhhin, ein estnischer Staatsangehöriger, war auf der Website von Interpol zur Fahndung ausgeschrieben. Er wurde am 30. September 2014 in der Stadt Bauska (Lettland) festgenommen und kam in Untersuchungshaft. Am 21. Oktober 2014 stellte Russland bei den lettischen Behörden einen Auslieferungsantrag. Darin hieß es, dass die Strafverfolgung von Herrn Petruhhin eingeleitet worden sei und dass er wegen versuchten bandenmäßigen Handels mit einer großen Menge von Betäubungsmitteln in Haft zu nehmen sei. Nach russischem Recht kann diese Straftat mit einer Gefängnisstrafe von 8 bis 20 Jahren geahndet werden.

Aleksei Petruhhin beantragt Aufhebung der Auslieferungsentscheidung

Die Generalstaatsanwaltschaft von Lettland genehmigte die Auslieferung von Herrn Petruhhin an Russland. Herr Petruhhin beantragte jedoch die Aufhebung dieser Entscheidung, weil er aufgrund des zwischen den baltischen Staaten geschlossenen Übereinkommens über Rechtshilfe und die Rechtsbeziehungen in Lettland die gleichen Rechte wie ein lettischer Staatsbürger habe. Da das lettische Recht die Auslieferung eigener Staatsbürger grundsätzlich verbiete und Lettland seine Bürger gemäß einem Abkommen mit Russland nicht dorthin ausliefere, sei Lettland verpflichtet, ihn vor einer ungerechtfertigten Auslieferung zu schützen.

Schutz vor Auslieferung ist nur für lettische Staatsbürger vorgesehen

Der Augstaka tiesa (Oberster Gerichtshof Lettlands) hebt hervor, dass weder im lettischen Recht noch in einem von Lettland – insbesondere mit Russland oder den anderen baltischen Staaten – geschlossenen internationalen Abkommen ein Vorbehalt bestehe, der die Auslieferung eines estnischen Staatsbürgers nach Russland verbiete. Nach diesen Abkommen sei der Schutz vor einer solchen Auslieferung nur für lettische Staatsbürger vorgesehen. Gleichwohl könnte der fehlende Schutz der Unionsbürger vor Auslieferung, wenn sie sich in einen anderen Mitgliedstaat als den ihrer Staatsangehörigkeit begeben hätten, dem Recht der Unionsbürger zuwiderlaufen, äquivalenten Schutz wie Inländer zu erhalten.

Nationales Gericht erbittet Vorabentscheidung des EuGH im Hinblick auf möglichen Verstoß gegen Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit

Vor diesem Hintergrund möchte der Oberste Gerichtshof Lettlands vom Gerichtshof der Europäischen Union wissen, ob bei der Anwendung eines zwischen einem Mitgliedstaat und einem Drittstaat geschlossenen Auslieferungsabkommens die Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats im Hinblick auf das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit und das Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht der Unionsbürger in den Genuss der Vorschrift kommen müssen, die eine Auslieferung der eigenen Staatsangehörigen verbietet. Der Oberste Gerichtshof Lettlands fragt zudem, ob der ersuchte Mitgliedstaat (d. h. der Mitgliedstaat – hier Lettland –, den ein Drittstaat um Auslieferung eines Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats ersucht) prüfen muss (und wenn ja, anhand welcher Kriterien), ob die Auslieferung nicht die von der Charta der Grundrechte der EU geschützten Rechte beeinträchtigen wird.

Situation von Aleksei Petruhhin fällt unter Grundsatz des Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit

In seinem Urteil weist der Gerichtshof zunächst darauf hin, dass Herr Petruhhin, ein estnischer Staatsangehöriger, als Unionsbürger von seinem Recht auf Freizügigkeit in der Union Gebrauch gemacht hat, indem er sich nach Lettland begab, so dass seine Situation in den Anwendungsbereich der Verträge und damit unter den Grundsatz des Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit fällt.

Nationale Regelung schafft Ungleichbehandlung von Staatsbürgern unterschiedlicher Mitgliedsstaaten

Die fraglichen nationalen Auslieferungsvorschriften schaffen aber eine Ungleichbehandlung in Abhängigkeit davon, ob die betroffene Person ein Inländer oder ein Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats ist. Sie führen nämlich dazu, dass Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten, wie Herrn Petruhhin, der Schutz vor Auslieferung, den Inländer genießen, nicht gewährt wird. Dadurch sind solche Vorschriften geeignet, die Freizügigkeit von Personen wie Herrn Petruhhin in der Union zu beeinträchtigen, und stellen daher eine Beschränkung der Freizügigkeit dar.

Nationale Regelung verfolgt legitimen Zweck

Eine solche Beschränkung lässt sich nur rechtfertigen, wenn sie auf objektiven Erwägungen beruht und in angemessenem Verhältnis zu einem mit dem nationalen Recht legitimerweise verfolgten Zweck steht. Das Ziel, der Gefahr entgegenzuwirken, dass Personen, die eine Straftat begangen haben, straflos bleiben, ist im Unionsrecht als legitim einzustufen.

Nationale Regelung soll Verhinderung einer Bestrafung entgegenwirken

Die Auslieferung ist ein Verfahren, das verhindern soll, dass eine Person, die sich in einem anderen Hoheitsgebiet aufhält als dem, in dem sie die mutmaßliche Straftat begangen hat, der Strafe entgeht. Denn die Nichtauslieferung der Inländer wird zwar im Allgemeinen dadurch ausgeglichen, dass der ersuchte Mitgliedstaat die Möglichkeit hat, seine eigenen Staatsangehörigen wegen außerhalb seines Hoheitsgebiets begangener schwerer Straftaten zu verfolgen, doch ist er in der Regel nicht dafür zuständig, über solche Sachverhalte zu urteilen, wenn weder der Täter noch das Opfer der mutmaßlichen Straftat die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats besitzt. Mit der Auslieferung lässt sich somit verhindern, dass Personen, die im Hoheitsgebiet eines Staates Straftaten begangen haben und aus diesem Hoheitsgebiet geflohen sind, der Strafe entgehen.

Mitgliedsstaaten müssen Ausgleich zwischen Bekämpfung der Gefahr der Straflosigkeit und Schutz des Rechts auf Freizügigkeit finden

Nationale Vorschriften, die es ermöglichen, einem Auslieferungsantrag zum Zweck der Verfolgung und Aburteilung in dem Drittstaat, in dem die Straftat begangen worden sein soll, stattzugeben, sind in diesem Kontext zur Erreichung des angestrebten Ziels geeignet. Mangels Unionsrechtsvorschriften über die Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten und einem Drittstaat ist es jedoch wichtig, alle Mechanismen der Zusammenarbeit und gegenseitigen Hilfe, die es im Bereich des Strafrechts nach dem Unionsrecht gibt, in Gang zu setzen, um die Gefahr der Straflosigkeit zu bekämpfen und gleichzeitig die Unionsbürger vor Maßnahmen zu schützen, die ihnen ihr Recht auf Freizügigkeit verwehren können.

Mitgliedsstaat des betroffenen Staatsangehörigen muss Möglichkeit zum Erlass eines Europäischen Haftbefehls gegeben werden

Somit muss dem Informationsaustausch mit dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit der Betroffene hat, der Vorzug gegeben werden, um den Behörden dieses Mitgliedstaats, sofern sie nach ihrem nationalen Recht diese Person wegen im Ausland begangener Straftaten verfolgen dürfen, Gelegenheit zu geben, einen Europäischen Haftbefehl zu Verfolgungszwecken zu erlassen. Arbeitet der Aufnahmemitgliedstaat auf diese Weise mit dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit der Betroffene hat, zusammen und räumt diesem etwaigen Haftbefehl Vorrang vor dem Auslieferungsantrag ein, greift er weniger stark in die Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit ein, wirkt aber zugleich im Rahmen des Möglichen der Gefahr der Straflosigkeit entgegen.

Betroffenen darf in Mitgliedsstaat keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung drohen

Im Übrigen weist der Gerichtshof darauf hin, dass nach der Charta niemand in einen Staat abgeschoben oder ausgewiesen oder an einen Staat ausgeliefert werden darf, in dem für sie oder ihn das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht. Folglich ist die zuständige Behörde des ersuchten Mitgliedstaats, sofern sie über Anhaltspunkte dafür verfügt, dass eine echte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung von Personen im betreffenden Drittstaat besteht, verpflichtet, das Vorliegen dieser Gefahr zu würdigen, wenn sie den Auslieferungsantrag prüft. Dabei muss sich die zuständige Behörde des ersuchten Mitgliedstaats auf objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben stützen. Diese Angaben können sich u. a. aus Entscheidungen internationaler Gerichte wie Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, aus Entscheidungen von Gerichten des betreffenden Drittstaats sowie aus Entscheidungen, Berichten und anderen Schriftstücken von Organen des Europarats oder aus dem System der Vereinten Nationen ergeben.

© kostenlose-urteile.de (ra-online GmbH), Berlin 07.09.2016
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online

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