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Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Urteil vom 05.09.2017
10 S 30/16 -

Turban tragender Sikh hat keinen zwingenden Anspruch auf Befreiung von der Helmpflicht beim Motorradfahren

Stadt Konstanz muss wegen Ermessensfehlers dennoch über Antrag auf Befreiung von der Helmpflicht neu entscheiden

Die Berufung eines Sikh, dessen Antrag auf Befreiung von der für Motorradfahrer geltenden Schutzhelmpflicht von der Stadt Konstanz abgelehnt worden war, hatte vor dem Verwaltungs­gerichts­hof Baden-Württemberg nur teilweise Erfolg. Der Verwaltungs­gerichts­hof entschied, dass die Stadt wegen der Religionsfreiheit nicht gezwungen sei, ihm die beantragte Ausnahme von der Helmpflicht zu genehmigen. Allerdings kam der Verwaltungs­gerichts­hof zu dem Ergebnis, dass die Stadt das ihr eingeräumte Ermessen bei der Ablehnung des Antrags des Klägers auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung bislang noch nicht fehlerfrei ausgeübt hat, weshalb sie über dessen Antrag nochmals neu entscheiden müsse.

Der Kläger des zugrunde liegenden Falls ist als getaufter Sikh (sogenannter Amritdhari) in der Öffentlichkeit zum Tragen eines Turbans, eines sogenannten Dastar, religiös verpflichtet. Weil er nicht gleichzeitig den Turban und einen Motorradhelm tragen könne, beantragte er im Jahr 2013 bei der Beklagten, ihn nach § 46 Absatz 1 Satz 1 Nummer 5b der Straßenverkehrsordnung (StVO) von der in § 21 a Absatz 2 StVO geregelten Pflicht zum Tragen eines Schutzhelms beim Führen eines Kraftrads zu befreien. Die Beklagte lehnte dies mit der Begründung ab, dass eine Ausnahmegenehmigung nur erteilt werden könne, wenn das Tragen eines Helms aus gesundheitlichen Gründen nicht möglich sei. Dementsprechend hatte die Beklagte in den Jahren 2011 und 2015 einen anderen Motorradfahrer wegen Genickschmerzen von der Helmpflicht befreit.

Kläger kann von Beklagten neue Entscheidung über Befreiungsantrag verlangen

Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg führte zur Begründung seiner Entscheidung aus, dass die Ablehnung der beantragten Ausnahmegenehmigung wegen einer fehlerhaften Ermessensausübung rechtswidrig gewesen sei, weil die Beklagte nicht deutlich gemacht habe, dass eine Befreiung von der Schutzhelmpflicht nicht nur bei einer Unmöglichkeit des Schutzhelmtragens aus gesundheitlichen, sondern auch aus religiösen Gründen in Betracht komme. Der Kläger könne auch deshalb von der Beklagten eine neue Entscheidung über seinen Befreiungsantrag verlangen, weil diese erst im Juli 2017 ihre bisherige Verwaltungspraxis aufgegeben habe, nach der bei einer Unmöglichkeit des Tragens eines Helms aus gesundheitlichen Gründen eine Befreiung ohne weitere Voraussetzungen erteilt worden sei. Wenn sie nun vortrage, zukünftig bei Befreiungsanträgen "die Notwendigkeit des Motorradfahrens an sich zu hinterfragen", bliebe unklar, was genau sie künftig prüfen wolle. Jedenfalls habe sie im Fall des Klägers eine solche Prüfung bislang auch noch nicht vorgenommen.

VGH verneint zwingenden Anspruch des Klägers auf Befreiung von der Helmpflicht

Dagegen hatte die Berufung des Klägers keinen Erfolg, soweit er geltend gemacht hat, dass die Beklagte zwingend verpflichtet sei, ihm die beantragte Ausnahmegenehmigung zu erteilen. Einen solchen strikten Anspruch hat der Verwaltungsgerichtshof verneint, da die Erteilung der Befreiung im Ermessen der Beklagten stehe und ihr deshalb eine gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbare Entscheidungsfreiheit zustehe. Dieses Ermessen sei im Fall des Klägers auch nicht "auf Null reduziert". Vielmehr sei es rechtlich nicht ausgeschlossen, dass die Behörde den Befreiungsantrag des Klägers ablehne. Allerdings müsse sie - anders als bisher - dabei beachten, dass die Unmöglichkeit des Helmtragens aus gesundheitlichen Gründen nicht großzügiger behandelt werden dürfe als eine Unmöglichkeit des Helmtragens aus religiösen Gründen.

Eingriff in Religionsfreiheit durch Vorrang des Schutzes physischer und psychischer Integrität Dritter gerechtfertigt

Die vom Kläger für einen zwingenden Befreiungsanspruch vorgetragenen Argumente haben den Verwaltungsgerichtshof nicht überzeugt. So sei es entgegen der Ansicht des Klägers verfassungsrechtlich unbedenklich, dass die Schutzhelmpflicht auch im Anwendungsbereich der Glaubensfreiheit eines Motorradfahrers nicht in einem Parlamentsgesetz, sondern in einer Rechtsverordnung (StVO) geregelt sei. Eine Ermessensreduzierung folge auch nicht aus der Glaubensfreiheit des Klägers (Artikel 4 Absatz 1 und 2 des Grundgesetzes). Zwar greife die Schutzhelmpflicht in seine Glaubensfreiheit ein, indem er als Sikh wegen der Helmpflicht nicht Motorrad fahren dürfe. Der in der Schutzhelmpflicht liegende Eingriff könne allerdings durch den von der Schutzhelmpflicht (auch) bezweckten und zudem in Artikel 2 Absatz 2 des Grundgesetzes verfassungsrechtlich verbürgten Schutz der physischen und psychischen Integrität Dritter gerechtfertigt werden, sodass die Glaubensfreiheit des Klägers nicht automatisch eine Verengung des behördlichen Entscheidungsermessens im Sinne einer zwingend zu genehmigenden Ausnahme zur Folge habe. Ein durch einen Helm geschützter Motorradfahrer werde im Fall eines Unfalls regelmäßig eher als ein nicht geschützter Fahrer in der Lage sein, etwas zur Abwehr der mit einem Unfall einhergehenden Gefahren für Leib und Leben anderer Personen beizutragen, indem er etwa die Fahrbahn räume, auf die Unfallstelle aufmerksam mache, Ersthilfe leiste oder Rettungskräfte herbeirufe. Die Schutzhelmpflicht fördere aber nicht nur die physische Unversehrtheit Dritter, sondern schütze auch deren psychische Unversehrtheit, wenn man bedenke, dass Unfallbeteiligte durch schwere Personenschäden anderer Unfallbeteiligter nicht selten selbst psychische Schäden davontrügen. Von diesem Risiko sei angesichts von Unfällen mit Motorradfahrern ohne Helm auszugehen, bei denen bekanntermaßen häufig schwerwiegende, zum Teil auch tödliche Kopfverletzungen die Folge seien.

Befreiungsanspruch aufgrund des Gleichbehandlungsgebots nicht gegeben

Auch ergebe sich eine Reduzierung des behördlichen Ermessens nicht aus dem Gleichbehandlungsgebot des Artikels 3 Absatz 1 des Grundgesetzes. Da eine Unmöglichkeit des Schutzhelmtragens aus gesundheitlichen Gründen jedenfalls nicht schwerer wiegen könne als eine Unmöglichkeit des Schutzhelmtragens aus religiösen Gründen, spreche zwar einiges dafür, dass der Kläger gegenüber der Beklagten angesichts ihrer bisherigen Befreiungspraxis einen Anspruch auf Gleichbehandlung gehabt habe. Die Beklagte habe aber während des laufenden Berufungsverfahrens ihre frühere Verwaltungspraxis willkürfrei aufgegeben und wolle nunmehr vor einer Befreiung "die Notwendigkeit des Motorradfahrens an sich hinterfragen"; damit scheide ein Anspruch auf Gleichbehandlung nunmehr aus. Auch der Umstand, dass in Einzelfällen andere Straßenverkehrsbehörden in der Vergangenheit Sikhs aus religiösen Gründen von der Schutzhelmpflicht befreit hätten, vermittele dem Kläger keinen Befreiungsanspruch gegen die Beklagte. Denn diese sei durch solche andernorts getroffenen Einzelfallentscheidungen nicht gebunden. Das Gleichheitsgebot verlange nur, dass die Beklagte in ihrem örtlichen Zuständigkeitsbereich gleichmäßig entscheide.

© kostenlose-urteile.de (ra-online GmbH), Berlin 05.09.2017
Quelle: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg/ra-online

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