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Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 19.07.2017
2 BvR 2003/14 -

Verfassungs­beschwerde gegen Zwangsbehandlung im Rahmen der öffentlich-rechtlichen Unterbringung erfolgreich

Rechtsgrundlage für medizinische Zwangsbehandlung im Psychisch­kranken­gesetz des Landes Mecklenburg-Vorpommern mit Grundgesetz unvereinbar und nichtig

Die vom Bundes­verfassungs­gericht zur Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug entwickelten Maßgaben können auch auf die Zwangsbehandlung im Rahmen der öffentlich-rechtlichen Unterbringung übertragen werden. Dies entschied das Bundes­verfassungs­gericht und erklärte die Rechtsgrundlage für die medizinische Zwangsbehandlung im Psychisch­kranken­gesetz des Landes Mecklenburg-Vorpommern in der bis zum 30. Juli 2016 gültigen Fassung für mit dem Grundgesetz unvereinbar und nichtig.

Dem Fall lag folgender Sachverhalt zugrunde: Im Juli 2014 wurde die Beschwerdeführerin in die geschlossene Abteilung eines Klinikums eingewiesen und ihre vorläufige Unterbringung richterlich angeordnet. Das Gericht führte zur Begründung aus, die Beschwerdeführerin leide an halluzinatorischer Schizophrenie, es bestehe eine gegenwärtige erhebliche Gefahr für eine Selbstschädigung. Die hiergegen gerichtete Beschwerde der Beschwerdeführerin blieb erfolglos, wobei sie in der Folgezeit rügte, dass das Gericht sich nicht zur Zulässigkeit der - aus ihrer Sicht rechtswidrigen - Zwangsmedikation geäußert habe, die bereits einmal gewaltsam an ihr durchgeführt worden sei. Daraufhin genehmigte das zuständige Amtsgericht auf Grundlage von § 23 des Psychischkrankengesetzes des Landes Mecklenburg-Vorpommern (PsychKG M-V) "die Verabreichung einer Depotspritze mit dem Medikament Olanzapin Depot (Zypadhera) betreuungsgerichtlich". Zwar bestünden im Hinblick auf Entscheidungen des Bundesgerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts verfassungsrechtliche Bedenken gegen § 23 PsychKG M-V, und der Gesetzgeber habe eine Anpassung des PsychKG M-V an diese Rechtsprechung erwogen. Dies könne jedoch nicht dazu führen, krankheitsuneinsichtigen geschlossen untergebrachten Patienten die notwendige ärztliche Heilbehandlung zu versagen. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde wendet sich die Beschwerdeführerin gegen diesen Beschluss und gegen die medizinische Zwangsbehandlung auf Grundlage von § 23 PsychKG-MV. Diese Vorschrift ist in der Zwischenzeit außer Kraft gesetzt und neu gefasst worden. Ähnliche Vorschriften gibt es aber noch in drei anderen Bundesländern.

Medizinische Zwangsbehandlung greift in Grundrechte eines Untergebrachten ein

Das Bundesverfassungsgericht entschied, dass der angegriffene Beschluss die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verletzt. Die medizinische Zwangsbehandlung eines Untergebrachten greift in dessen Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ein, das die körperliche Integrität des Grundrechtsträgers und damit auch das diesbezügliche Selbstbestimmungsrecht schützt. Dem Eingriffscharakter einer Zwangsbehandlung steht nicht entgegen, dass sie zum Zweck der Heilung vorgenommen wird.

Zwangsbehandlung nur auf Grundlage eines Gesetzes zulässig

Die Zwangsbehandlung eines Untergebrachten ist, wie jeder andere Grundrechtseingriff, nur auf der Grundlage eines Gesetzes zulässig, das die Voraussetzungen für die Zulässigkeit des Eingriffs bestimmt. Das Bundesverfassungsgericht hat aus den grundrechtlichen Garantien und aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit konkrete Anforderungen an die Rechtsgrundlage für eine Zwangsbehandlung der im Maßregelvollzug Untergebrachten aufgestellt.

Planmäßigen Behandlungen bedarf vorheriger Ankündigung

Die gesetzliche Grundlage muss strikt die krankheitsbedingte Einsichtsunfähigkeit des Betroffenen oder dessen Unfähigkeit zu einsichtsgemäßem Verhalten zur Voraussetzung haben. Aus den Grundrechten ergeben sich zudem Anforderungen an das Verfahren, die den Grundrechtsschutz gewährleisten sollen. Jedenfalls bei planmäßigen Behandlungen ist eine Ankündigung erforderlich, die dem Betroffenen die Möglichkeit eröffnet, rechtzeitig um Rechtsschutz zu ersuchen. Zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit ist unabdingbar, dass die Anordnung und Überwachung einer medikamentösen Zwangsbehandlung durch einen Arzt erfolgt. Als Vorwirkung der grundrechtlichen Garantie gerichtlichen Rechtsschutzes ergibt sich ferner die Notwendigkeit, gegen den Willen des Untergebrachten ergriffene Behandlungsmaßnahmen, einschließlich ihres Zwangscharakters, der Durchsetzungsweise, der maßgeblichen Gründe und der Wirkungsüberwachung, zu dokumentieren. Schließlich sind spezielle verfahrensmäßige Sicherungen gegen die besonderen situationsbedingten Grundrechtsgefährdungen erforderlich, die sich ergeben, wenn über die Anordnung einer Zwangsbehandlung außerhalb akuter Notfälle allein die jeweilige Unterbringungseinrichtung entscheidet. Hierzu bedarf es einer vorausgehenden Prüfung der Maßnahme durch Dritte in gesicherter Unabhängigkeit von der Unterbringungseinrichtung.

Medizinische Zwangsbehandlung darf nur als letztes Mittel vorgesehen sein

Aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit folgen darüber hinaus materielle Anforderungen an die Rechtsgrundlage. Die Vorschrift muss den Zweck oder die Zwecke, die einen Eingriff rechtfertigen sollen, abschließend bestimmen. Eine gesetzliche Grundlage zur Durchführung der Zwangsbehandlung muss ferner festlegen, dass eine solche nur durchgeführt werden darf, wenn sie im Hinblick auf das Behandlungsziel Erfolg verspricht. Überdies darf eine medizinische Zwangsbehandlung nur als letztes Mittel vorgesehen sein, wenn mildere Mittel nicht in Betracht kommen. Für eine medikamentöse Zwangsbehandlung zur Erreichung des Ziels, die Unterbringung möglichst bald zu beenden, bedeutet dies erstens, dass eine weniger eingreifende Behandlung aussichtslos sein muss. Zweitens muss der Zwangsbehandlung, soweit der Betroffene gesprächsfähig ist, der ernsthafte, mit dem nötigen Zeitaufwand und ohne Ausübung unzulässigen Drucks unternommene Versuch vorausgegangen sein, seine auf Vertrauen gegründete Zustimmung zu erlangen. Über die Erfordernisse der Geeignetheit und Erforderlichkeit hinaus dürfen mit der Zwangsbehandlung auch keine Belastungen verbunden sein, die außer Verhältnis zu dem erwartbaren Nutzen stehen. Die Angemessenheit einer Zwangsbehandlung ist nur gewahrt, wenn, unter Berücksichtigung der jeweiligen Wahrscheinlichkeiten, der zu erwartende Nutzen der Behandlung den möglichen Schaden der Nichtbehandlung überwiegt.

Schutzstandard für Zwangsbehandlungen muss in allen Fällen gleich hoch sein

Diese - zur Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug entwickelten - Maßgaben sind auf die Zwangsbehandlung im Rahmen der öffentlich-rechtlichen Unterbringung zu übertragen. Hierfür fällt entscheidend ins Gewicht, dass es im Hinblick auf den Umfang des Grundrechtsschutzes keinen Unterschied macht, auf welcher Rechtsgrundlage sich der Betroffene in der Unterbringung befindet. Der Schutzstandard für die Zwangsbehandlung muss in allen Fällen gleich hoch sein.

Rechtsgrundlage wird Anforderungen des BVerfG nicht gerecht

§ 23 Abs. 2 Satz 2 Alternative 1 PsychKG M-V wird den Anforderungen in Bezug auf das Verfahren der Behörden und Gerichte nicht gerecht. Entgegen der verfassungsrechtlichen Vorgabe enthält die Vorschrift keine Regelung dazu, dass die Anordnung und Überwachung der medizinischen Zwangsbehandlung durch einen Arzt erfolgen muss. Sie erfüllt zudem nicht die verfahrensmäßige Vorgabe, dass dem Eingriff eine von der Unterbringungseinrichtung unabhängige Prüfung vorausgehen muss. Außerdem fehlt es an der abschließenden Bestimmung des Zwecks oder der Zwecke, die den Eingriff rechtfertigen sollen. Letztlich ist dem Erfordernis, die weiteren aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz abzuleitenden Anforderungen einer Zwangsbehandlung gesetzlich zu konkretisieren, nicht genügt worden. Es fehlt insbesondere an einer angemessenen Regelung, sich vorab um eine auf Vertrauen gegründete, im Rechtssinne freiwillige Zustimmung zu bemühen.

© kostenlose-urteile.de (ra-online GmbH), Berlin 16.08.2017
Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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