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Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 16.03.2006
2 BvR 170/06 -

Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen die Aufrechterhaltung von Untersuchungshaft

Das Bundesverfassungsgericht hat Beschlüsse, die die Fortdauer der Untersuchungshaft eines wegen Vergewaltigung an seiner Ehefrau angeklagten Türken angeordnet hatten, aufgehoben, weil sie das Freiheitsgrundrecht des Angeklagten verletzen.

Der Beschwerdeführer befindet sich seit einem Jahr und neun Monaten wegen des Verdachts der Vergewaltigung seiner Ehefrau in Untersuchungshaft. Nachdem das Landgericht Mannheim sechs Sitzungstage verhandelt hatte, verurteilte es den Beschwerdeführer im Dezember 2004 wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung in fünf Fällen zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren. Zugleich beschloss es die weitere Fortdauer der Untersuchungshaft.

Auf die Revision des Beschwerdeführers hin hob der Bundesgerichtshof im Oktober 2005 das Urteil des Landgerichts wegen eines Verfahrensfehlers auf und verwies die Sache an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurück. Termine zur Durchführung der erneuten Hauptverhandlung sind für März und April 2006 bestimmt.

Die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers, mit der er sich gegen die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft wandte, war erfolgreich. Die 3. Kammer des Zweiten Senats hob die angegriffenen Haftfortdauerbeschlüsse des Landgerichts und des Oberlandesgerichts auf, da sie den Beschwerdeführer in seinem Freiheitsgrundrecht verletzten. Die Gerichte hätten sich bei der Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft nicht hinreichend mit dem Umstand auseinandergesetzt, dass durch eine unzureichende Arbeitserledigung im nichtrichterlichen Bereich, der vor allem Schreib- und Routinearbeiten betraf, erhebliche Verfahrensverzögerungen eingetreten sind. Dies sei wegen des Beschleunigungsgebots in Haftsachen nicht hinnehmbar. Die Sache wurde zu erneuter Entscheidung an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts der persönlichen Freiheit ist durch erhöhte Anforderungen an die Begründungstiefe von Haftfortdauerentscheidungen Rechnung zu tragen. Die mit Haftsachen betrauten Gerichte haben sich bei der Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft mit deren Voraussetzungen eingehend auseinanderzusetzen und diese entsprechend zu begründen. Diesen Anforderungen werden die angegriffenen Entscheidungen nicht gerecht. Folgende Faktoren hätten in die Abwägung einbezogen werden müssen:

Das Protokoll der Hauptverhandlung wurde erst mehr als zwei Wochen nach der schriftlichen Abfassung des Urteils fertig gestellt. Diese Verfahrensverzögerung ist von Belang, da das Urteil zuvor nicht zugestellt werden darf und sie sich daher auf die zügige Durchführung des Revisionsverfahrens auswirkt. Hinzu tritt, dass die Zustellung des Urteils auch nach dem Vorliegen des fertig gestellten Protokolls erst drei Wochen später verfügt und diese Verfügung schließlich erst knapp zwei Wochen später ausgeführt wurde. Dass für Schreib- und Routinearbeiten in diesem Bereich mehr als sechs Wochen vergingen, ist kaum zu rechtfertigen. Die Organisation des Schreibdienstes und der Geschäftsstellen sowie des Aktentransports hat dem Beschleunigungsgebot ebenfalls Rechnung zu tragen. Es kann nicht hingenommen werden, dass die von Verfassungs wegen gebotene zügige richterliche Bearbeitung durch eine unzureichende Arbeitserledigung im nichtrichterlichen Bereich konterkariert wird.

Von Belang ist dieser Gesichtspunkt auch für den weiteren Verlauf des Revisionsverfahrens. Die Verfügung, nach deren Inhalt die Akten nebst der Revisionsbegründung an die Staatsanwaltschaft versandt werden sollten, wurde erst mehr als fünf Wochen später ausgeführt. Auch dies ist unter der Geltung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen nicht hinnehmbar.

Eine weitere Verfahrensverzögerung liegt darin, dass die dienstlichen Erklärungen der erkennenden Richter zu der schriftsätzlich erhobenen Verfahrensrüge erst über einen Monat später abgegeben wurden.

Schließlich hätten auch die Arbeitsabläufe im Rahmen der Zustellung des Beschlusses des Bundesgerichtshofes Anlass zur Prüfung geben müssen. Obwohl die Kanzleitätigkeit bereits abgeschlossen war, wurde der Beschluss erst neun Tage später versandt.

Allein diese Ursachen haben zu Verzögerungen von mehr als drei Monaten geführt, bei deren Vermeidung auch die erneute Durchführung der Hauptverhandlung hätte beschleunigt werden können. Das Oberlandesgericht hat unverzüglich unter Berücksichtigung der angeführten Gesichtspunkte erneut eine Entscheidung herbeizuführen. Dabei hat es zu berücksichtigen, dass das Bundesverfassungsgericht etwa bei einer Dauer der bisher vollzogenen Untersuchungshaft von fast 18 Monaten auch einer Verzögerung von fast sechs Wochen besonderes Gewicht beigemessen hat. Bezogen auf den vorliegenden Fall wiegen die dargestellten Verfahrensverzögerungen sogar noch schwerer.

siehe auch

BVerfG, Beschluss v. 04.03.2005: Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen die Aufrechterhaltung von Untersuchungshaft

BVerfG, Beschluss v. 05.12.2005: BVerfG: Achtjährige Untersuchungshaft ist zu lang

BVerfG, Beschluss v. 29.12.2005: Erneut Verfassungsbeschwerde gegen die Aufrechterhaltung von Untersuchungshaft erfolgreich

© kostenlose-urteile.de (ra-online GmbH), Berlin 17.03.2006
Quelle: Pressemitteilung Nr. 21/06 des BVerfG vom 17.03.2006

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