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Der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin hat der Klage der Abgeordneten Kosche gegen die Ablehnung von Einsicht in die Senatsakten zur Teilprivatisierung der Berliner Wasserbetriebe im Wesentlichen stattgegeben und die Rechtswidrigkeit der eine Akteneinsicht ablehnenden Entscheidungen des Senators für Finanzen festgestellt.
Der Verfassungsgerichtshof hat in dieser Entscheidung erstmals über das Akteneinsichtsrecht der Mitglieder des Abgeordnetenhauses von Berlin nach Art. 45 Abs. 2 der Verfassung von Berlin - VvB - (eingeführt durch das Achte Gesetz zur Änderung der Verfassung von Berlin vom 25. Mai 2006) entschieden. Art. 45 Abs. 2 VvB hat folgenden Wortlaut:
"Jeder Abgeordnete hat das Recht, Einsicht in Akten und sonstige amtliche Unterlagen der Verwaltung zu nehmen. Die Einsichtnahme darf abgelehnt werden, soweit überwiegende öffentliche Interessen einschließlich des Kernbereichs exekutiver Eigenverantwortung oder überwiegende private Interessen an der Geheimhaltung dies zwingend erfordern. Die Entscheidung ist dem Abgeordneten schriftlich mitzuteilen und zu begründen. Das Einsichtsrecht in Akten oder sonstige amtliche Unterlagen der Verfassungsschutzbehörde bleibt den Mitgliedern der für die Kontrolle der Verfassungsschutzbehörde zuständigen Gremien nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften vorbehalten."
Die Antragstellerin wandte sich (im Wege der sog. Organklage) als Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin gegen die teilweise Ablehnung ihres Antrags auf Akteneinsicht durch den Senat. Sie begehrte im Juni 2007 gestützt auf Art. 45 Abs. 2 VvB Einsicht in sämtliche bei den jeweiligen Senatsverwaltungen vorhandenen Akten und Archivakten zur Veräußerung der Berliner Wasserbetriebe. Insbesondere verlangte sie Einsicht in den Kaufvertrag (sog. Konsortialvertrag) zwischen dem Land Berlin und den Erwerbern der Berliner Wasserbetriebe (RWE und Veolia - ehemals Vivendi -) einschließlich aller Nebenverträge. Sämtliche angeforderten Unterlagen umfassen etwa 180 Aktenordner (ca. 90.000 Blatt).
Die Antragstellerin erhielt zunächst Einsicht in den Konsortialvertrag, allerdings nur „unter den vertraulichen Bedingungen des Datenraums des Abgeordnetenhauses“. Dem Einsichtsantrag gab die Senatsverwaltung für Finanzen im Februar und Juni 2008 nach Auswertung der Unterlagen nur teilweise statt und lehnte ihn im Übrigen ab. Sie begründete die teilweise Ablehnung - im Einzelnen unterschiedlich für bestimmte Aktenteile - damit, dass das Einsichtsinteresse der Antragstellerin als parlamentarisches Kontrollrecht zwar einen hohen Rang habe, aber hinter höherrangigen Interessen des Landes und der privaten Unternehmen zurücktreten müsse. So seien die grundrechtlich geschützten Geheimhaltungsbelangen der Unternehmen RWE und Veolia vorrangig zu beachten. Die Einsicht sei auch ausgeschlossen in Akten, die den Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung beträfen, und in solche Unterlagen, die im Interesse des Landes Berlin geheimhaltungsbedürftig seien und den Kontrollinteressen der Abgeordneten vorgingen. Die Verhandlungsposition des Senats in Privatisierungsverfahren würde geschwächt, wenn infolge der Einsichtnahme Einzelheiten über Zugeständnisse an die Vertragspartner bei der Privatisierung der Wasserbetriebe bekannt würden.
Die Antragstellerin machte geltend, dass die Entscheidungen der Senatsverwaltung für Finanzen die durch Art. 45 Abs. 2 VvB gezogenen Grenzen verkennen. Die Einsichtsverweigerung sei nicht ausreichend begründet und missachte die für das neu geschaffene Einsichtsrecht gültigen verfassungsrechtlichen Maßstäbe. Der Senator für Finanzen (Antragsgegner) ist dem mit eingehenden Rechtsausführungen entgegengetreten.
Für das Urteil des Verfassungsgerichtshofs sind im Wesentlichen folgende Erwägungen maßgeblich:
Art. 45 Abs. 2 Satz 2 VvB verlangt, alle für und gegen die Gewährung von Akteneinsicht sprechenden Belange vollständig und zutreffend zu ermitteln, zu gewichten und gegeneinander abzuwägen. Die nach Art. 45 Abs. 2 Satz 3 VvB vorgeschriebene Pflicht zur Begründung muss sich auf alle danach für den Einzelfall wesentlichen Gesichtspunkte erstrecken. Sie soll dem Abgeordneten und dem Verfassungsgerichtshof eine sachgerechte Überprüfung der einen Antrag auf Akteneinsicht ablehnenden Entscheidung ermöglichen. Dabei ist es nicht Aufgabe des Senats von Berlin, das Einsichtsinteresse der Abgeordneten politisch zu bewerten. Der Antrag darf nach dem Wortlaut der Verfassung von Berlin nur abgelehnt werden, wenn „überwiegende“ öffentliche Interessen oder private Interessen Dritter die Ablehnung der Einsichtnahme „zwingend erfordern“. Das ist auch bei einem vorrangigen öffentlichen oder privaten Geheimhaltungsinteresse dann nicht der Fall, wenn die Einsichtnahme - statt sie ganz oder zum Teil abzulehnen - in hinreichender Weise bestimmten Vorkehrungen parlamentarischer Geheimhaltung unterstellt werden kann.
Schon diesen Begründungsanforderungen entsprechen die angegriffenen Ablehnungsbescheide des Antragsgegners (Senator für Finanzen) nicht. Der Senator für Finanzen hat weder die der Einsichtnahme entgegenstehenden Interessen einzelfallbezogen plausibel aufgezeigt noch die gebotene konkrete Begründung dafür gegeben, wie die widerstreitenden Belange gegeneinander abzuwägen sind. Auch wenn angesichts des Umfangs des Aktenmaterials eine seiten- oder gar absatz- und zeilenbezogene Abwägung unzumutbar sein sollte, wäre der Antragsgegner zu einer konkret auf einzelne Unterlagen und Aktenbestandteile bezogenen Abwägungsentscheidung verpflichtet gewesen. Zumindest hätte eine typisierende und zugleich konkret nachvollziehbare Kategorisierung der Unterlagen erfolgen müssen, um eine hieran anknüpfende Abwägung der widerstreitenden Interessen zu ermöglichen und nachvollziehbar zu machen.
Fehlerhaft war auch die Gewichtung und Abwägung der Einsichts- und Geheimhaltungsinteressen. Dies schon deshalb, weil sie nicht zu einzelnen Unterlagen erfolgt ist, sondern gleichsam vor die Klammer gezogen wurde und damit zwangsläufig abstrakt und pauschal geblieben ist. Außerdem hat sich der Verfassungsgerichtshof zu der Abrede in dem besonders umstrittenen Konsortialvertrag, über Vertragsinhalt und Vertragsverhandlungen absolutes Stillschweigen zu bewahren, geäußert: Es ist zwar verfassungsrechtlich unbedenklich, die Verlässlichkeit von Geheimhaltungszusagen zugunsten der Vertragspartner als schutzwürdiges Geheimhaltungsinteresse anzusehen. Hier bestand jedoch nach dem Vertragsinhalt eine Geheimhaltungspflicht nur, soweit keine gesetzliche Pflicht zur Offenlegung bestand. Das Akteneinsichtsrecht für Abgeordnete nach Art. 45 Abs. 2 VvB begründete eine solche gesetzliche Pflicht, durch die die Vertraulichkeitsabrede gegenstandslos geworden ist.
Ausdrücklich offen gelassen hat der Verfassungsgerichtshof, ob die Arbeitsfähigkeit der Verwaltung einem besonders umfangreichen Einsichtsbegehren unter dem Gesichtspunkt der verfassungsrechtlich gebotenen Rücksichtnahme der Verfassungsorgane untereinander entgegengehalten werden kann. Der insoweit allein auf die große Seitenzahl der betroffenen Unterlagen bezogene und erstmals im Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof angeführte Einwand sei zu allgemein gefasst, um den hohen Anforderungen zu genügen, die es - wenn überhaupt - ausnahmsweise rechtfertigen könnten, den Anspruch auf Akteneinsicht allein aus Gründen unvertretbaren Verwaltungsaufwands einzuschränken.
© kostenlose-urteile.de (ra-online GmbH), Berlin 15.07.2010
Quelle: ra-online, Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin
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