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Bis Ende 2000 sah das deutsche Einkommensteuergesetz eine Steuergutschrift für Dividenden deutscher Aktiengesellschaften vor. Für die Dividenden von ausländischen Gesellschaften gab es diese Gutschrift nicht. Der Europäische Gerichtshof sah hierin eine unzulässige Benachteiligung für deutsche Aktienbesitzer, die ausländische Aktien in ihrem Depot hatten. Ein Mitgliedsstaat dürfe eine Steuergutschrift nicht nur für Dividenden einer inländischen Kapitalgesellschaft gewähren, urteilten die Richter. Da dieser Aspekt der Kapitalverkehrsfreiheit bereits seit dem Urteil Verkooijen, dessen zeitliche Wirkung der Gerichtshof nicht beschränkte, geklärt sei, habe der Gerichtshof die Wirkungen seines jetzigen Urteils nicht beschränkt.
Mit diesem Urteil ist Deutschland verpflichtet, Steuerrückzahlungen in Milliardenhöhe zu leisten. Deutschland müsse die Nachteile, die Besitzern ausländischer Wertpapiere aus der bis 2001 gültigen Regelung entstanden seien, rückwirkend ausgleichen.
Die Vorgeschichte des Rechtsstreits im Ausgangsverfahren reicht in die 90er-Jahre zurück. Nach dem damals geltenden deutschen Recht hatten in Deutschland unbeschränkt Einkommensteuerpflichtige Anspruch auf eine Steuergutschrift für die von deutschen Gesellschaften erhaltenen Dividenden, nicht aber für die Dividenden, die von Gesellschaften mit Sitz in anderen Mitgliedstaaten stammten. Den Aktionären dieser Gesellschaften kam somit nicht der Anrechnungsmechanismus zugute, der es den Steuerpflichtigen erlaubte, 3/7 der an sie ausgeschütteten Dividenden von der Einkommensteuerschuld gegenüber dem deutschen Fiskus abzuziehen.
In den Jahren 1995 bis 1997 erhielt Herr Meilicke, ein in Deutschland wohnhafter deutscher Staatsangehöriger, Dividenden auf von ihm gehaltene Aktien von Gesellschaften mit Sitz in den Niederlanden und in Dänemark. Nach seinem Ableben beantragten seine Erben im Jahr 2000 beim Finanzamt Bonn-Innenstadt erfolglos eine Steuergutschrift für diese Dividenden. Die Erben erhoben daraufhin Klage beim Finanzgericht Köln, das vom Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens wissen möchte, ob die Gemeinschaftsbestimmungen über den freien Kapitalverkehr ein Steuersystem wie das deutsche zulassen.
Nicht gerechtfertigte Beschränkung des freien Kapitalverkehrs
In seinem Urteil vom heutigen Tag entscheidet der Gerichtshof, dass die deutsche Steuerregelung den freien Kapitalverkehr beschränkt. Er verweist insoweit auf seine Rechtsprechung zur Klarstellung der Anforderungen, die sich aus dem freien Kapitalverkehr für Dividenden ergeben, die Inländer von ausländischen Gesellschaften empfangen*.
Der Gerichtshof stellt fest, dass die Steuergutschrift nach der deutschen Regelung entsprechend derjenigen, um die es in der Rechtssache Manninen ging, die Doppelbesteuerung der als Dividenden ausgeschütteten Gewinne von Gesellschaften verhindern soll.
In diesem Zusammenhang weist er darauf hin, dass eine solche Regelung, indem sie die Steuergutschrift auf Dividenden beschränkt, die von Gesellschaften mit Sitz in Deutschland ausgeschüttet werden, zum einen die in Deutschland unbeschränkt einkommensteuerpflichtigen Personen, die Dividenden von Gesellschaften mit Sitz in anderen Mitgliedstaaten beziehen, benachteiligt. Diese Personen können auf ihre Steuer nicht die von diesen Gesellschaften in ihrem Sitzstaat geschuldete Körperschaftsteuer anrechnen.
Zum anderen behindert die Regelung die letztgenannten Gesellschaften darin, in Deutschland Kapital zu sammeln.
Der Gerichtshof weist sodann das Vorbringen zurück, dass die fragliche Regelung durch die Notwendigkeit gerechtfertigt sei, die Kohärenz des nationalen Steuersystems zu wahren. Er führt dazu aus, dass es, ohne die Kohärenz dieses Systems in Frage zu stellen, ausreichen würde, einem steuerpflichtigen Aktionär einer Gesellschaft mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat eine Steuergutschrift zu gewähren, die nach Maßgabe der von dieser Gesellschaft im letztgenannten Mitgliedstaat geschuldeten Körperschaftsteuer berechnet wird. Eine solche Lösung würde den freien Kapitalverkehr weniger beschränken.
Keine Beschränkung der zeitlichen Wirkung des Urteils
Die deutsche Regierung hat in ihren beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen die Möglichkeit angesprochen, dass der Gerichtshof die zeitliche Wirkung seines Urteils beschränkt. Sie hat den Gerichtshof zum einen auf die schwerwiegenden Folgen aufmerksam gemacht, die eine Feststellung der Unvereinbarkeit der streitigen Regelung mit dem freien Kapitalverkehr nach sich ziehen würde. Zum anderen hat sie geltend gemacht, sie habe bis zur Verkündung des Urteils Verkooijen im Jahr 2000 davon ausgehen dürfen, dass diese Regelung mit dem Gemeinschaftsrecht in Einklang stehe.
Der Gerichtshof erinnert daran, dass er die zeitliche Wirkung einer Auslegung einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts nur ausnahmsweise und in dem Urteil selbst, in dem über die erbetene Auslegung entschieden wird, beschränken kann.
Er erläutert, dass sich die zeitliche Wirkung einer solchen Auslegung notwendig nach einem einheitlichen Zeitpunkt bestimmen muss. Insoweit stellt der Grundsatz, dass eine Beschränkung nur in dem Urteil selbst erfolgen kann, in dem über die erbetene Auslegung entschieden wird, die Gleichbehandlung der Mitgliedstaaten und der Einzelnen in Ansehung des Gemeinschaftsrechts sicher und erfüllt damit die Anforderungen, die sich aus dem Grundsatz der Rechtssicherheit ergeben.
Insoweit weist er darauf hin, dass die Anforderungen, die sich aus dem Grundsatz des freien Kapitalverkehrs für Dividenden ergeben, die Inländer von ausländischen Gesellschaften empfangen, bereits im Urteil Verkooijen klargestellt worden sind und dessen zeitliche Wirkung nicht beschränkt wurde.
Aus diesen Gründen gelangt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass die zeitliche Wirkung des vorliegendenUrteils nicht zu beschränken ist.
Fußnote:
*In seinem Urteil vom 6. Juni 2000, Verkooijen (C-35/98, Slg. 2000, I-4071), entschied der Gerichtshof, dass das Gemeinschaftsrecht einer Rechtsvorschrift eines Mitgliedstaats entgegensteht, die die Gewährung einer Befreiung von der Einkommensteuer auf Dividenden, die an natürliche Personen, die Anteilseigner sind, gezahlt werden, von der Voraussetzung abhängig macht, dass die Dividenden zahlende Gesellschaft ihren Sitz in diesem Mitgliedstaat hat.
In seinem Urteil vom 7. September 2004, Manninen (C-319/02, Slg. 2004, I-7477), kam der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass bei der Berechnung einer Steuergutschrift die Steuer berücksichtigt werden muss, die die Gesellschaft in ihrem Sitzmitgliedstaat tatsächlich entrichtet hat.
© kostenlose-urteile.de (ra-online GmbH), Berlin 06.03.2007
Quelle: ra-online, Pressemitteilung des Europäischen Gerichtshofs vom 06.03.2007
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Dokument-Nr. 3894
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