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Der Gerichtshof der Europäischen Union hat entschieden, dass ein Staatsangehöriger eines Nicht-EU-Landes als Elternteil eines minderjährigen Kindes, das die Unionsbürgerschaft besitzt, ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht in der Union geltend machen kann. Dass der andere Elternteil, der Unionsbürger ist, die tägliche und tatsächliche Sorge für das Kind allein wahrnehmen könnte, ist als Gesichtspunkt von Bedeutung, genügt aber allein nicht, um eine Aufenthaltserlaubnis abzulehnen. Vielmehr muss festgestellt werden, dass zwischen dem Kind und dem Elternteil aus einem Nicht-EU-Land kein Abhängigkeitsverhältnis in der Weise besteht, dass das Kind, wenn diesem Elternteil das Aufenthaltsrecht verweigert würde, das Unionsgebiet verlassen müsste.
Frau Chavez-Vilchez, eine venezolanische Staatsangehörige, reiste mit einem Touristenvisum in die Niederlande ein. Aus ihrer Beziehung mit einem niederländischen Staatsangehörigen ging im Jahr 2009 ein Kind hervor, das die niederländische Staatsangehörigkeit besitzt. Die Eltern und ihr Kind lebten bis Juni 2011in Deutschland, als Frau Chavez-Vilchez und das Kind die Familienwohnung verlassen mussten und in die Niederlande zurückkehrten. Seither nimmt sie die Sorge für das Kind wahr; nach ihren Angaben trägt der Vater weder zum Unterhalt des Kindes noch zu seiner Erziehung bei. Jedoch wurden, weil Frau Chavez-Vilchez in den Niederlanden keine Aufenthaltsberechtigung besitzt, dort ihre Anträge auf Sozialhilfe und Kindergeld von den Behörden abgelehnt.
Die Lage von sieben weiteren Frauen, die Staatsangehörige von Nicht-EU-Ländern sind, weist Ähnlichkeiten mit der von Frau Chavez-Vilchez auf: Es handelt sich ebenfalls um Mütter eines oder mehrerer Kinder mit niederländischer Staatsangehörigkeit, deren Vater gleichfalls niederländischer Staatsangehöriger ist. Alle diese Kinder sind von ihrem Vater anerkannt worden, leben aber hauptsächlich oder ausschließlich bei der Mutter. Jedoch weisen diese Fälle auch Unterschiede auf, die das sorgerechtliche Verhältnis zwischen Eltern und Kindern und die Beiträge zum Kindesunterhalt, die aufenthaltsrechtliche Lage der Mütter im Unionsgebiet und die Lage der minderjährigen Kinder selbst betreffen. Zudem haben die minderjährigen Kinder der anderen sieben Frauen im Unterschied zum Fall von Frau Chavez-Vilchez niemals von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht, weil sie seit ihrer Geburt immer in dem Mitgliedstaat (den Niederlanden) lebten, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen.
Der Centrale Raad van Beroep (Berufungsgericht für den Bereich der sozialen Sicherheit und des öffentlichen Dienstes, Niederlande), der mit gerichtlichen Verfahren wegen der Ablehnung der niederländischen Behörden, den betroffenen Müttern Sozialhilfe und Kindergeld zu gewähren, befasst ist, hat in dieser Sache ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof gerichtet. Er möchte wissen, ob die Betroffenen als Mütter eines Kindes, das Unionsbürger ist, unter den Umständen ihres jeweiligen Einzelfalls ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht auf der Grundlage von Art. 20 AEUV (Unionsbürgerschaft) geltend machen können. Wenn diese Frage bejaht wird, könnten die Betroffenen nach niederländischem Recht gegebenenfalls Sozialhilfe oder Kindergeld beziehen. Der Centrale Raad van Beroep fragt insbesondere, welche Bedeutung dem Umstand zukommt, dass der Vater, der Unionsbürger ist, in den Niederlanden oder in der Union lebt.
In seinem Urteil betont der Gerichtshof vorab, dass die Lage von Frau Chavez-Vilchez und ihres Kindes, die beide von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, zunächst an Art. 21 AEUV (Recht der Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten) und der Richtlinie 2004/38* (die die Wahrnehmung der Freizügigkeit und des Aufenthaltsrechts erleichtern soll) zu messen ist. Jedoch ist es Sache des niederländischen Gerichts, zu klären, ob die in dieser Richtlinie festgelegten Voraussetzungen erfüllt sind, so dass Frau Chavez-Vilchez auf dieser Grundlage ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht geltend machen könnte. Ist dies nicht der Fall, wäre ihre Lage und die ihres Kindes, wie im Fall der anderen betroffenen Mütter, im Licht von Art. 20 AEUV zu prüfen.
Insoweit erinnert der Gerichtshof an seine Rechtsprechung, wonach Art. 20 AEUV nationalen Maßnahmen – einschließlich Entscheidungen, mit denen Familienangehörigen eines Unionsbürgers ein Aufenthaltsrecht versagt wird – entgegensteht, die bewirken, dass Unionsbürgern der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihnen der Unionsbürgerstatus verleiht, verwehrt wird. So könnte in den vorliegenden Fällen eine etwaige Verpflichtung der Mütter, das Unionsgebiet zu verlassen, ihren Kindern die Möglichkeit nehmen, den Kernbestand dieser Rechte tatsächlich in Anspruch zu nehmen, weil sie selbst das Unionsgebiet verlassen müssten. Hierüber zu befinden, ist Sache des niederländischen Gerichts. Um zu beurteilen, inwieweit diese Gefahr besteht, ist zu ermitteln, welcher Elternteil die tatsächliche Sorge für das Kind wahrnimmt und ob ein tatsächliches Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Kind und dem Elternteil aus einem Nicht-EU-Land besteht. Hierbei müssen die Behörden das Recht auf Achtung des Familienlebens und das Kindeswohl berücksichtigen.
Der Umstand, dass der andere Elternteil, der Unionsbürger ist, wirklich in der Lage und bereit ist, die tägliche und tatsächliche Sorge für das Kind allein wahrzunehmen, ist in diesem Zusammenhang ein Gesichtspunkt von Bedeutung, der aber allein nicht genügt, um feststellen zu können, dass zwischen dem Elternteil aus einem Nicht-EU-Land und dem Kind kein Abhängigkeitsverhältnis in der Weise besteht, dass sich das Kind zum Verlassen des Unionsgebiets gezwungen sähe, wenn dem Elternteil mit Drittstaatsangehörigkeit ein Aufenthaltsrecht versagt würde. Einer solchen Feststellung muss vielmehr eine Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls im Interesse des Kindeswohls zugrunde liegen, so insbesondere seines Alters, seiner körperlichen und emotionalen Entwicklung, des Grades seiner affektiven Bindung sowohl zu dem Elternteil, der Unionsbürger ist, als auch zu dem Elternteil, der einem Nicht-EU-Land angehört, sowie des Risikos, das mit der Trennung vom letztgenannten Elternteil für das innere Gleichgewicht des Kindes verbunden wäre.
Was die Beweislast angeht, so hat der Elternteil aus einem Nicht-EU-Land diejenigen Informationen beizubringen, anhand deren sich beurteilen lässt, ob eine Entscheidung, mit der ihm ein Aufenthaltsrecht versagt würde, seinem Kind die Möglichkeit nähme, den Kernbestand seiner mit dem Unionsbürgerstatus verbundenen Rechte tatsächlich in Anspruch zu nehmen, weil es gezwungen wäre, das Unionsgebiet zu verlassen.
Jedoch haben die nationalen Behörden darüber zu wachen, dass die Anwendung einer nationalen Beweislastregelung nicht geeignet ist, die praktische Wirksamkeit von Art. 20 AEUV zu beeinträchtigen. So müssen die nationalen Behörden ihrerseits die erforderlichen Ermittlungen anstellen, um festzustellen, wo sich der Elternteil, der Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats ist, aufhält. Sie müssen auch prüfen, ob dieser Elternteil wirklich in der Lage und bereit ist, die tägliche und tatsächliche Sorge für das Kind allein wahrzunehmen. Ebenso haben sie zu prüfen, ob zwischen dem Kind und dem Elternteil aus einem Nicht-EU-Land ein Abhängigkeitsverhältnis in der Weise besteht, dass eine Entscheidung, mit der diesem Elternteil das Aufenthaltsrecht versagt würde, dem Kind die Möglichkeit nähme, den Kernbestand der mit seinem Unionsbürgerstatus verbundenen Rechte tatsächlich in Anspruch zu nehmen, weil es dazu gezwungen wäre, das Unionsgebiet zu verlassen.
© kostenlose-urteile.de (ra-online GmbH), Berlin 15.05.2017
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online
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