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Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 24.10.2006
2 BvR 30/06 -

Gerichte müssen Sachverhalt von Disziplinarmaßnahmen im Strafvollzug vollständig aufklären

Der Beschwerdeführer befindet sich in Strafhaft. Die Vollzugsanstalt verhängte gegen ihn eine Disziplinarmaßnahme in Form einer Einkaufssperre von einem Monat und entzog ihm die Besitzerlaubnis für seine Schreibmaschine, da der Beschwerdeführer mehrfach unerlaubte Rechtsberatung betrieben und dadurch die Ordnung der Anstalt gestört habe.

Der Beschwerdeführer wandte sich gegen die verhängten Maßnahmen mit einem Antrag auf gerichtliche Entscheidung. Er machte geltend, die Mitgefangenen nicht beraten, sondern lediglich die von diesen vorbereiteten Schreiben durchgesehen und in ordentliches Deutsch übertragen zu haben. Dafür habe er weder eine Gegenleistung erhalten noch eine solche verlangt.

Das Landgericht wies den Antrag als unbegründet zurück. Der Antragsteller habe Rechtsberatung in einem weiteren Sinne betrieben. Es gebe auch nicht den mindesten Zweifel daran, dass der Beschwerdeführer entgegen seiner Behauptung dies gegen Entgelt in welcher Form auch immer getan habe und nicht etwa aus reiner Menschenfreundlichkeit. Diese Erkenntnis schöpfe das Gericht aus seiner jahrelangen Erfahrung im Strafvollzug, weswegen es keiner weiteren Ermittlungen bedürfe. Wer daran glaube, der Antragsteller hätte seine Dienste umsonst und uneigennützig erbracht, verkenne die Realitäten des Strafvollzugs.

In der Akte des landgerichtlichen Verfahrens finden sich von der Justizvollzugsanstalt gefertigte Niederschriften von Aussagen mehrerer Mitgefangener. Diese hatten nicht in Abrede gestellt, dem Beschwerdeführer gelegentlich Gefälligkeiten - wie etwa das Abgeben von Tabak - erwiesen zu haben. Alle Befragten hatten jedoch bestritten, dass dies in einem direkten Zusammenhang mit den vom Beschwerdeführer geleisteten Hilfestellungen gestanden habe.

Die gegen die Entscheidung des Landgerichts gerichtete Verfassungsbeschwerde war erfolgreich. Die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts hob den Beschluss des Landgerichts auf. Er verletze den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 19 Abs. 4 GG, weil er auf unzureichender Aufklärung des Sachverhalts beruhe.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Es ist schon unklar, welche konkreten Verhaltensweisen des Beschwerdeführers das Gericht als erwiesen angesehen hat. Während die Vollzugsanstalt dem Beschwerdeführer vorwarf, er habe Rechtsberatung betrieben, indem er für Mitgefangene Schriftsätze verfasst habe, hat die Kammer hierzu nur festgestellt, er habe „Rechtsberatung in einem weiteren Sinne“ betrieben. Welche konkreten Tätigkeiten der Beschwerdeführer für Dritte entfaltet haben soll, wurde nicht geklärt. Nähere Feststellungen waren jedoch erforderlich; denn die Verhängung der Disziplinarmaßnahme konnte als rechtmäßig nur auf der Grundlage von Tatsachenfeststellungen bestätigt werden, die eine Subsumtion unter den Begriff der Rechtsberatung im Sinne des Rechtsberatungsgesetzes und unter die dort aufgestellten Kriterien für deren Zulässigkeit erlaubten. An der Feststellung der für diese Subsumtion erforderlichen Tatsachen fehlte es hier.

Das Landgericht konnte auch nicht davon ausgehen, auf eine Prüfung der Vereinbarkeit des Verhaltens des Beschwerdeführers mit den Bestimmungen des Rechtsberatungsgesetzes komme es nicht an, weil jede mit konkret vereinbarten Gegenleistungen verbundene Hilfstätigkeit für Mitgefangene grundsätzlich schon im Hinblick auf die damit verbundene Gefahr subkultureller Abhängigkeiten einen disziplinarisch zu ahndenden Pflichtverstoß darstelle. Das Gericht durfte die Rechtmäßigkeit der verhängten Disziplinarmaßnahme nicht unter Auswechslung der von der Anstalt angeführten Gründe bestätigen, sondern hatte die Maßnahme auf der Grundlage des von der Anstalt erhobenen Vorwurfs der unerlaubten Rechtsberatung zu prüfen.

Auch insoweit wären im Übrigen die gerichtlichen Sachverhaltsfeststellungen unzureichend gewesen. Die Annahme, dass im Strafvollzug Hilfsdienste für Mitgefangene typischerweise nicht ohne Gegenleistung erbracht werden, entspricht einer in Fachkreisen verbreiteten Einschätzung. Auch wenn entsprechende in der Praxis gewonnene Erkenntnisse in die Würdigung konkreter Sachverhalte einfließen mögen, erübrigen sie nicht die Auseinandersetzung mit konkreten Einwänden gegen die Richtigkeit der anstaltlichen Sachverhaltsdarstellung. Im vorliegenden Fall fehlt bereits jede nähere Darstellung und Würdigung der konkreten Einlassungen der von der Anstalt befragten Mitgefangenen. Aus der Akte ist nicht ersichtlich, dass diese dem Beschwerdeführer überhaupt zur Kenntnis gegeben wurden. Es fehlt auch jede nähere Feststellung zu der Frage, welcher Art das behauptete Gegenleistungsverhältnis war – ob es sich etwa um die Erbringung oder konkrete Zusicherung konkret bestimmter Gegenleistungen für konkret bestimmte Hilfsdienste handelte oder nur um ein allgemeines Verhältnis wechselseitiger Bereitschaft zu gelegentlich auch tatsächlich erbrachten Gefälligkeiten. Weiter fehlt jede nähere Auseinandersetzung mit der Frage, inwiefern nach dem konkreten Charakter dieses Verhältnisses die Gegenseitigkeitsbeziehung tatsächlich ordnungsstörende Abhängigkeitsverhältnisse begründete. Da Gefangenen nicht jede Gegenseitigkeitsbeziehung und damit jede Form des normalen menschlichen Miteinander als ordnungsstörend verboten sein kann, war eine Abgrenzung hier nicht entbehrlich.

© kostenlose-urteile.de (ra-online GmbH), Berlin 27.11.2006
Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 113/06 des BVerfG vom 17.11.2006

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