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Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 27.12.2006
2 BvR 1895/05 -

Andauernde Kindesentziehung - eine zweite strafrechtliche Verurteilung wegen Kindesentziehung ist nicht ohne weiteres möglich

Verurteilung darf nicht von Zufälligkeiten und der Geschwindigkeit der Strafverfolgung abhängen

Ein einmal wegen Kindesentziehung verurteilter Vater kann nicht ohne weiteres ein zweites Mal wegen noch fortwährender Kindesentziehung verurteilt werden, weil er sich beharrlich weigert, die Voraussetzungen für eine Rückführung des Kindes zur allein sorgeberechtigten Mutter zu schaffen. Im Fall weigerte ein Vater sich, eine Einverständniserklärung zur Ausreise des Kindes aus Algerien abzugeben. Das Strafgericht müsse in diesen Fällen eingehend prüfen, ob der Vater erneut schuldhaft Unrecht verwirklicht habe. Das hat das Bundesverfassungsgericht entschieden.

Der Beschwerdeführer ist Vater einer im Jahre 1995 geborenen Tochter. Das Aufenthaltsbestimmungsrecht für das Kind wurde der Mutter, seiner früheren Ehefrau, übertragen. Im Jahr 2001 reiste das Mädchen mit dem Einverständnis seiner Mutter zu Verwandten des Beschwerdeführers nach Algerien, wo sie sich seither aufhält. Alle Versuche der Mutter, ihre Tochter wieder nach Deutschland zu holen, scheiterten daran, dass für die Ausreise nach algerischem Recht ein notariell beurkundetes Einverständnis des Vaters notwendig ist. Dieses hat der Beschwerdeführer von Anfang an verweigert. Infolge dieser Weigerung wurde er zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt.

Auch nach Rechtskraft dieser Verurteilung weigerte sich der Beschwerdeführer, das Einverständnis zu erteilen. Daraufhin wurde er erneut wegen Kindesentziehung zu einer weiteren Freiheitsstrafe von nunmehr drei Jahren verurteilt. Dabei nahm das Gericht an, die erste Verurteilung entfalte Zäsurwirkung im Hinblick auf das Dauerdelikt der Kindesentziehung, so dass es sich bei der nach der ersten Verurteilung weiter verweigerten Zustimmungserklärung des Beschwerdeführers zur Ausreise seines Kindes aus Algerien um eine neue Tat der Kindesentziehung handele.

Die gegen seine zweite strafgerichtliche Verurteilung gerichtete Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers hatte Erfolg. Die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts hob das Urteil des Landgerichts auf, da die zweite Verurteilung des Beschwerdeführers, die an die Nichtabgabe der notariellen Zustimmungserklärung zur Ausreise seiner Tochter anknüpft, in mehrfacher Hinsicht das Schuldprinzip verletze.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Das Gericht hat sich nicht mit der Frage auseinandergesetzt, ob der Beschwerdeführer durch das weitere Unterlassen der Abgabe der notariellen Zustimmungserklärung überhaupt erneut schuldhaft Unrecht verwirklicht hat. Es hat nicht geprüft, ob der Beschwerdeführer angesichts der Einmaligkeit der von ihm geforderten Leistung – Abgabe der notariellen Zustimmungserklärung zur Ausreise seiner Tochter – durch die bloße Fortsetzung seines Nichthandelns ein erneut rechtlich verbotenes Verhalten gezeigt hat, das eigenständiger Sanktionierung zugänglich ist.

Das Gericht hat – sollte der Beschwerdeführer erneut schuldhaft Unrecht verwirklicht haben – auch nicht den Schuldumfang der von ihm angenommenen zweiten im Verhältnis zur ersten Tat erörtert. Dass der Staat durch einen bloßen nicht näher begründeten Verweis auf die dogmatische Figur der „Zäsurwirkung“ einer vorausgegangenen Verurteilung selbst die Voraussetzungen für die Verurteilung wegen einer vermeintlich neuen Tat schafft, stellt einen offensichtlichen Verstoß gegen das Schuldprinzip dar: Nicht die individuelle Schuld ist in einem solchen Falle Grund der Bestrafung und Grundlage der Strafzumessung, sondern die von Zufälligkeiten abhängige Geschwindigkeit der Strafverfolgung, die zur Konstruktion von Zäsurwirkungen führt. Die Strafbarkeit hängt nicht von den abstrakt-generellen Normen des Strafrechts, sondern von der konkreten Organisation der Gerichte ab, die die Voraussetzungen der Strafbarkeit selbst gestalten. Eine solche Rechtsanwendung birgt die Gefahr, den Beschuldigten als bloßes Objekt der Strafverfolgungsbehörden zu behandeln.

Selbst bei Annahme einer neuen schuldhaft verwirklichten Tat hätte das Gericht sich damit auseinandersetzen müssen, ob eine erneute Verurteilung sich nicht von der Bestimmung der Strafe löst, gerechter Schuldausgleich zu sein. Einer vom individuellen Schuldgehalt der Tat absehenden Verurteilung des Beschwerdeführers käme lediglich eine mit dem Schuldprinzip nicht zu vereinbarende Beugewirkung zu. Der Beschwerdeführer wird dann nicht entsprechend dem Maß seiner individuellen Schuld, sondern wegen seines gegenüber den Strafverfolgungsbehörden gezeigten Ungehorsams mit Strafen belegt, deren Ende nicht absehbar ist. Ungehorsam ist einem rechtsstaatlichen Strafrecht als Strafgrund fremd.

© kostenlose-urteile.de (ra-online GmbH), Berlin 01.02.2007
Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 07/07 des BVerfG vom 25.01.2007

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