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Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 16.09.2010
2 BvR 1608/07 -

BVerfG: Verfassungsbeschwerde gegen die Anordnung der Festhaltung eines ausländischen Strafverfolgten im Rahmen internationaler Rechtshilfe erfolgreich

Verletzung des Freiheitsgrundrechts in Verbindung mit Rechtsgarantien bei Freiheitsentziehung

Das Bundesverfassungsgericht hat eine Verfassungsbeschwerde gegen die Anordnung der Festhaltung eines türkischen Strafverfolgten im Rahmen der internationalen Rechtshilfe für zulässig erklärt, da die Inhaftierungsanordnung eine Verletzung des Grundrechts auf persönliche Freiheit darstellt.

Der Beschwerdeführer des zugrunde liegenden Falls, ein türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit, reiste im Jahre 2003 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Zur Begründung seines Asylantrags trug er im Wesentlichen vor, aufgrund seiner Aktivitäten als Mitglied der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) von den türkischen Behörden gefoltert und zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden zu sein. Durch die deutschen Behörden wurde zunächst festgestellt, dass in der Person des Beschwerdeführers die Voraussetzungen eines Abschiebeverbots wegen politischer Verfolgung vorliegen, und später auch seine Asylberechtigung anerkannt.

Sachverhalt

Im September 2006 wurde der Beschwerdeführer aufgrund eines türkischen Festnahmeersuchens, ausweislich dessen er an Bombenanschlägen und Tötungsdelikten in der Türkei beteiligt gewesen sein soll, in Deutschland festgenommen und dem Amtsgericht vorgeführt. Nach einem von dort eingeholten Bericht des Landeskriminalamtes ist bei dem Beschwerdeführer ein posttraumatisches, ggf. auch hirnorganisches Psychosyndrom nach langer Haft, Folter und Hungerstreik ärztlich diagnostiziert worden, aufgrund dessen bei längerer Haft mit schweren psychischen Krisen bei ihm zu rechnen und eine Fluchtgefahr eher unwahrscheinlich sei. Nach Anhörung des Beschwerdeführers ersuchte das Amtsgericht mit nicht unterzeichnetem formularmäßigem Schreiben ohne Begründung die Justizvollzugsanstalt um Aufnahme des Beschwerdeführers zum Vollzug und ordnete mit Beschluss die ärztliche Begutachtung zur Feststellung seiner Haftfähigkeit an. Der Beschwerdeführer wurde sechs Tage später aus der Haft entlassen, nachdem seine Haftunfähigkeit ärztlich festgestellt worden war. Mit Beschluss vom Juni 2007 lehnte das Kammergericht seine Anträge auf Gewährung einer Haftentschädigung und Feststellung der Rechtswidrigkeit seiner Inhaftierung ab.

Beschwerdeführer sieht sich durch Inhaftierung in Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt

Der Beschwerdeführer sieht sich durch die Inhaftierungsanordnung des Amtgerichts und den ablehnenden Beschluss des Kammergerichts in seinem Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt. Die Regelung des § 22 Abs. 3 Satz 2 des Gesetzes über die Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) sei als Ermächtigungsgrundlage für den Erlass einer Festhalteanordnung verfassungswidrig, da sie keine richterliche Sachaufklärung für die Freiheitsentziehung voraussetze. Selbst bei verfassungskonformer Auslegung fehle es an einer formell und materiell rechtmäßigen Festhalteanordnung des Amtsgerichts.

Beschwerdeführer in Freiheitsgrundrecht in Verbindung mit Rechtsgarantien bei Freiheitsentziehung verletzt

Das Bundesverfassungsgericht hat die angegriffenen Entscheidungen aufgehoben, weil sie den Beschwerdeführer in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit den Rechtsgarantien bei Freiheitsentziehung aus Art. 104 Abs. 1 bis 3 GG verletzen. Die Sache ist an das Kammergericht zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen worden.

Entscheidungen hinsichtlich eines Entzugs der persönlichen Freiheit müssen auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:

Es ist unverzichtbare Voraussetzung rechtsstaatlicher Verfahren, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht. Den sich daraus ergebenden verfassungsrechtlichen Anforderungen werden die angegriffenen Entscheidungen nicht gerecht.

Verfassungsbeschwerde hinsichtlich der Regelung zur Anordnung der Festhaltung im Rahmen internationaler Rechtshilfe erfolglos

Soweit der Beschwerdeführer allerdings die Verfassungswidrigkeit der Regelung des § 22 Abs. 3 Satz 2 IRG als solche rügt, hat seine Verfassungsbeschwerde keinen Erfolg. Die Vorschrift setzt zwar nach ihrem Wortlaut für die Anordnung der Festhaltung im Rahmen internationaler Rechtshilfe lediglich die richterliche Prüfung der Identität des Festgenommenen voraus, nicht aber eine Sachaufklärung des Amtsgerichts zur Prüfung der materiellen Voraussetzungen für die Freiheitsentziehung. Diese ist nach § 17 IRG erst dem Oberlandesgericht vorbehalten, dem dabei keine Entscheidungsfrist gesetzt ist.

Bei Bedenken gegen die Zulässigkeit der Haft muss Amtgericht in verfassungskonformer Auslegung des § 22 Abs. 3 IRG Freilassungsanordnung erlassen

Zur Ausräumung der sich daraus ergebenden verfassungsrechtlichen Bedenken, ob ein Gericht bei Freiheitsentziehungen von einer sachlichen Prüfung überhaupt derart weitreichend freigestellt werden darf, bedarf es einer verfassungskonformen Auslegung der Regelung des § 22 Abs. 3 Satz 2 IRG. So ist das Amtsgericht zumindest in Evidenzfällen verpflichtet, in summarischer Weise auch das Vorliegen eines Haftgrundes und die weiteren Haftvoraussetzungen nach dem IRG in seine Prüfung einzubeziehen. Liegt danach ein Haftgrund offensichtlich nicht vor oder ist die Auslieferung von vornherein unzulässig, muss das Amtsgericht vor seiner Entscheidung zunächst versuchen, die Sach- und Rechtslage mit der Generalstaatsanwaltschaft zu erörtern, damit diese entweder die umgehende Freilassung des Festgenommenen verfügen oder aber sachliche oder rechtliche Erkenntnisse einbringen kann. Bleiben durchgreifende Bedenken gegen die Zulässigkeit der Haft, über die das Oberlandesgericht nicht fristgerecht entscheiden kann, so muss das Amtgericht in erweiternder, verfassungskonformer Auslegung des § 22 Abs. 3 IRG eine Freilassungsanordnung erlassen.

Fachgerichte setzen sich nicht ausreichend mit drohender Gefahr politischer Verfolgung auseinander

Die beiden Fachgerichte haben sich vorliegend nicht hinreichend mit der dem Beschwerdeführer drohenden Gefahr politischer Verfolgung in der Türkei auseinandergesetzt, obwohl sich die Prüfung eines daraus folgenden Auslieferungshindernisses nach dem IRG aufdrängen musste. Denn der Beschwerdeführer war von den dafür zuständigen und sachkundigen Bundesämtern als politisch Verfolgter und Asylberechtigter anerkannt worden. Es fehlt schon an einer für den Beschwerdeführer und das Bundesverfassungsgericht nachprüfbaren Entscheidung über die Freiheitsentziehung durch das Amtsgericht, das keine schriftliche Festhalteanordnung gemäß § 22 Abs. 3 Satz 2 IRG erlassen, sondern lediglich um Aufnahme des Beschwerdeführers in die Justizvollzugsanstalt ersucht hat. Eine solche Verfahrensweise widerspricht den verfassungsrechtlichen Verfahrensgarantien bei Freiheitsentziehung, insbesondere dem Richtervorbehalt, und erschwert die Eröffnung der Verteidigungs- und Einwendungsmöglichkeiten des Festgenommenen.

Haftgrund der Fluchtgefahr hätte aufgrund des Gesundheitszustands durch Gerichte ausnahmsweise verneint werden können

Ebenso wenig befassen sich beide Gerichte mit der gleichermaßen naheliegenden Frage, ob im Falle des Beschwerdeführers, der über ein gesichertes Aufenthaltsrecht und eine Meldeanschrift in Deutschland verfügt, auch angesichts seines Gesundheitszustands der Haftgrund der Fluchtgefahr ausnahmsweise verneint werden kann.

© kostenlose-urteile.de (ra-online GmbH), Berlin 05.10.2010
Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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