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Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass das Zweitstimmendeckungsverfahren in § 1 Abs. 3, § 6 Abs. 1, Abs. 4 Sätze 1, 2 Bundeswahlgesetz (BWahlG) mit dem Grundgesetz (GG) vereinbar ist. Die 5 %-Sperrklausel in § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BWahlG verstößt aber derzeit gegen Art. 21 Abs. 1 und Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG. Bis zu einer Neuregelung gilt sie mit der Maßgabe fort, dass bei der Sitzverteilung Parteien mit weniger als 5 % der Zweitstimmen nur dann nicht berücksichtigt werden, wenn ihre Bewerber in weniger als drei Wahlkreisen die meisten Erststimmen auf sich vereinigt haben.
Am 17. März 2023 beschloss der Bundestag mit der Mehrheit der Regierungsfraktionen Änderungen des BWahlG. Danach sieht das BWahlG für die
Die Normenkontrollverfahren sind zulässig. Die Organklagen und Verfassungsbeschwerden sind nur teilweise zulässig. Unzulässig ist insbesondere der Organklageantrag der damaligen Fraktion DIE LINKE. Dabei kann offenbleiben, welche Folgen die Auflösung der Fraktion zum 6. Dezember 2023 für die zuvor eingereichte Organklage hat. Denn es fehlt an der Antragsbefugnis. Eine Fraktion hat weder ein Recht, auch nach der nächsten Wahl im Bundestag vertreten zu sein, noch kann sie sich als Fraktion auf das in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG wurzelnde Abgeordnetenrecht auf Beratung und Beschlussfassung im Bundestag berufen. Die Regelungen des Verfahrens der Zweitstimmendeckung sind mit Art. 38 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 und Art. 21 Abs. 1 GG vereinbar. Die 5 %-Sperrklausel ist mit diesen Maßstäben unvereinbar. In formeller Hinsicht sind die angegriffenen Normen verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Insbesondere weist das Gesetzgebungsverfahren keine Umstände auf, die dafür sprechen, dass der Deutsche Bundestag seinen Gestaltungsspielraum bei der Bestimmung der Verfahrensabläufe im Parlament überschritten haben könnte. Zwar ist die Wahlrechtsreform nicht im Konsens beschlossen worden, sondern lediglich mit der Mehrheit der Regierungsfraktionen. Diese Möglichkeit ist dem Gesetzgeber durch Art. 38 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 42 Abs. 2 Satz 1 GG jedoch ausdrücklich eröffnet. Auch der Umstand, dass die im Gesetzentwurf vorgesehene „angepasste Grundmandatsklausel“ (erst) im Zuge der abschließenden Ausschussberatungen gestrichen wurde, stellt keine Missachtung der Abgeordnetenrechte oder des Öffentlichkeitsgrundsatzes dar. Die parlamentarische Beratung dient gerade der Möglichkeit, einen Gesetzentwurf zu verändern. Im vorliegend zu beurteilenden Gesetzgebungsverfahren standen den Abgeordneten ohnehin genügend Informationen über die Bedeutung der „angepassten Grundmandatsklausel“ bzw. Wahlkreisklausel und ihres Fehlens zur Verfügung.
Die Normenkontrollanträge haben teilweise Erfolg. Für das Wahlrecht weist Art. 38 Abs. 3 GG dem Gesetzgeber die Aufgabe der näheren Ausgestaltung zu. Ihre Grenzen findet die gesetzgeberische Gestaltungsbefugnis in den Wahlgrundsätzen nach Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG. Danach werden die Abgeordneten des Deutschen Bundestages in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl gebietet dabei, dass alle Wahlberechtigten das aktive und passive Wahlrecht möglichst in formal gleicher Weise ausüben können. Zudem muss der Wahlgesetzgeber die Chancengleichheit der Parteien (Art. 21 Abs. 1 GG) wahren. Danach müssen jeder Partei grundsätzlich die gleichen Möglichkeiten im gesamten Wahlverfahren und damit gleiche Chancen bei der Verteilung der Sitze eingeräumt werden. Das Recht der Parteien auf Chancengleichheit hängt eng mit den Grundsätzen der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl zusammen. Die Grundsätze der Wahlgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien unterliegen keinem absoluten Differenzierungsverbot. Dem Gesetzgeber verbleibt bei der Ordnung des Wahlrechts ein eng bemessener Spielraum für Differenzierungen. Nach diesen Maßstäben ist das Zweitstimmendeckungsverfahren mit dem
Den damit zwingend verbundenen Ausgleich zwischen den Ergebnissen der Wahlkreiswahl und der Verhältniswahl hat er hingegen — ebenfalls im Rahmen seines weiten Gestaltungsspielraums — neu gestaltet. Nach altem Recht wurden Bundestagsmandate sowohl nach dem Ergebnis der Wahlkreiswahl als auch nach dem Ergebnis der Listenwahl zugeteilt: Zunächst erhielten erfolgreiche Wahlkreisbewerber ein Mandat (Direktmandat). Der Ausgleich erfolgte anschließend, indem beim Sitzzuteilungsverfahren an die Parteien die Wahlkreismandate auf die Sitze der Landeslisten angerechnet wurden. Nach dem Zweitstimmendeckungsverfahren werden vor dem Ausgleich keine Mandate vergeben. Zunächst erfolgt die Verteilung der 630 Sitze auf die Parteien und ihre Landeslisten. Sodann wird die Besetzungsreihenfolge für jedes dieser Sitzkontingente bestimmt. Hier rücken erfolgreiche Wahlkreisbewerber in der Rangfolge ihrer Stimmanteile an die Spitze der Landesliste. Erst im letzten Schritt erhalten alle Bewerberinnen und Bewerber in dieser Reihenfolge ihre Mandate.
Die Kritik, dass sich der Gesetzgeber nicht entweder für ein reines Mehrheits- oder für ein reines Verhältniswahlrecht entschieden habe, übersieht, dass er nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Verhältniswahl mit Elementen der Personenwahl verbinden darf. Aus der Beibehaltung einer Kombination von Verhältniswahl und Wahlkreiswahl folgt jedoch nicht, dass auch das bisherige Ausgleichsverfahren beibehalten werden müsste und nicht neu konzipiert werden könnte. Der Gesetzgeber darf sich für eine andere Kombination entscheiden. Soweit geltend gemacht wird, das Zweitstimmendeckungsverfahren verstoße gegen ein Gebot der Regionalisierung oder der Wahlkreisrepräsentation, finden solche Gebote im
Wenn aus einigen Wahlkreisen nicht der Wahlkreisbewerber mit den meisten Stimmen in den Bundestag einzieht, sondern der Wahlkreis durch andere (Listen-)Abgeordnete im Bundestag vertreten wird, kann darin ein Widerspruch nur erkannt werden, wenn für die Wählerinnen und Wähler in einem Wahlkreis die Wahlkreiswahl als die allein maßgebliche Wahl für die Zuteilung eines Mandats angesehen würde. Nach dem Zweitstimmendeckungsverfahren ist jedoch die Wahlkreiswahl gerade nicht allein entscheidend für den Erhalt eines Mandats. Es sorgt vielmehr dafür, dass jeder Abgeordnete des Bundestages durch die Zweitstimmen für seine Partei legitimiert ist.
Das Zweitstimmendeckungsverfahren verletzt die Wahlgleichheit gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG nicht. Zwar werden Wahlstimmen für einen unabhängigen Bewerber im Fall seines Erfolges anders behandelt als Wahlstimmen für Wahlkreisbewerber einer Partei. Insbesondere erhält der unabhängige Bewerber ein Bundestagsmandat gemäß § 6 Abs. 2 BWahlG unabhängig vom Sitzvergabeverfahren nach dem Zweitstimmenergebnis. Diese Ungleichbehandlung ist jedoch gerechtfertigt. Das Zweistimmenwahlrecht des BWahlG sieht einen Ausgleich zwischen dem Erst- und dem Zweitstimmenergebnis vor. Ist ein solcher Ausgleich ausgeschlossen, weil zwischen Wahlkreisbewerber und Landesliste kein Ausgleichszusammenhang hergestellt werden kann, ist eine besondere Berücksichtigung dieser Konstellation zwingend. Die Möglichkeit, unabhängige Wahlkreisbewerber vorzuschlagen, sichert das Wahlvorschlagsrecht aller Wahlberechtigten unabhängig von politischen Parteien als Kernstück des Bürgerrechts auf aktive Teilnahme an der Wahl. Darüber hinaus führt das Zweitstimmendeckungsverfahren nicht zur Ungleichbehandlung von Wahlstimmen. Alle Wahlstimmen haben den gleichen Zählwert. Soweit Wählerinnen und Wähler mit ihrer Erststimme einen Wahlkreisbewerber einer Partei wählen, wird diese Stimme bei der Auszählung als eine Stimme für diesen Wahlkreisbewerber ausgewiesen.
Auch die Erfolgschancen der Erststimmen sind gleich. Jede Erststimme führt dann zu einem Mandat für den Wahlkreisbewerber, wenn zum einen der Bewerber die meisten Erststimmen im Wahlkreis und zum anderen die Landesliste seiner Partei so viele Zweitstimmen erhält, dass ihr Sitzkontingent für alle ihre erfolgreichen Wahlkreisbewerber mit dem gleichen oder besseren Erststimmenanteil ausreicht. Beide Bedingungen sind ausschließlich vom Wahlergebnis abhängig. Auch die Stimmen für einen erfolgreichen Wahlkreisbewerber, der ein Mandat im Zweitstimmendeckungsverfahren erhält, und die Stimmen für einen erfolgreichen Bewerber in einem anderen Wahlkreis, der kein Mandat erhält, werden nicht ungleich behandelt. Die Nichtzuteilung des Mandats an den erfolgreichen Bewerber ohne Zweitstimmendeckung ist das Ergebnis des vom Gesetzgeber gewählten Zuteilungsmechanismus, der von zwei Voraussetzungen abhängig ist (Erlangung der meisten Erststimmen im Wahlkreis und Zweitstimmendeckung durch die Landesliste). Der Erfolgswert der Wahlstimmen bestimmt sich entsprechend nach diesen beiden Voraussetzungen. Das Gebot der Unmittelbarkeit der Wahl gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG wird durch das Zweitstimmendeckungsverfahren ebenfalls nicht verletzt. Dieses ändert nichts daran, dass die Erststimme jeder Wählerin und jedes Wählers einem bestimmten Wahlkreisbewerber zugerechnet werden kann. Bei der Stimmabgabe ungewiss ist allein der Stimmerfolg. Er richtet sich ausschließlich nach dem – einheitlichen – Wahlvorgang und dem daran anschließenden gesetzlich vorgesehenen Sitzzuteilungsverfahren. Die Entscheidung, in welcher Reihenfolge erfolgreiche Wahlkreisbewerber ein Mandat oder bei fehlender Zweitstimmendeckung kein Mandat erhalten, ist damit allein durch das Wahlergebnis und das Wahlgesetz festgelegt.
Das Zweitstimmendeckungsverfahren verstößt nicht gegen die Chancengleichheit der Parteien (Art. 21 Abs. 1 GG). Die Einschätzung, es belaste die Oppositionsparteien in besonderer Weise, teilt der Senat nicht. Das Zweitstimmendeckungsverfahren dient der Zusammensetzung des Bundestages nach Parteienproporz ebenso wie das bislang geltende System der Ausgleichsmandate. Anders als der Begriff der „Kappung“ suggeriert, wird Parteien durch das Zweitstimmendeckungsverfahren kein ihnen bereits zugeteiltes Sitzkontingent gekürzt. Die damit erreichte Einhaltung der gesetzlichen Größe des Bundestages führt lediglich dazu, dass im kommenden Deutschen Bundestag von jeder Partei – bei unterstellt gleichbleibenden Wahlergebnissen – weniger Abgeordnete vertreten sein werden, als dies nach dem bisherigen Wahlrecht der Fall gewesen wäre.
Die Sperrklausel des § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BWahlG ist in ihrer geltenden Form mit dem
Unter den gegenwärtigen tatsächlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen ist die Ausgestaltung der Sperrklausel in § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BWahlG jedoch nicht in vollem Umfang erforderlich. Zur Sicherstellung der Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Bundestages ist es nicht notwendig, eine Partei bei der
CDU und CSU machen seit dem Bestehen der Bundesrepublik Deutschland im Wahlkampf deutlich, dass sie gleichgerichtete Ziele verfolgen und eine gemeinsame Fraktion bilden wollen. Insbesondere wirbt die CSU regelmäßig für den Spitzenkandidaten oder die Spitzenkandidatin der CDU. Seit 1976 stellen beide Parteien ausdrücklich ein gemeinsames Wahlprogramm für Bundestagswahlen auf. Seit 1949 bilden ihre Abgeordneten auch eine gemeinsame Fraktion im Bundestag. Während die CSU nur in Bayern zur Wahl antritt, verzichtet die CDU dort auf eine Vertretung. Das Ziel der Sperrklausel wird in gleicher Weise erreicht, wenn die Zweitstimmenergebnisse von Parteien, die in dieser Form kooperieren, gemeinsam berücksichtigt werden. Darin liegende Ungleichbehandlungen sind gerechtfertigt. Eine solche Kooperation verändert die Rahmenbedingungen der parlamentarischen Arbeit, auf deren Sicherung die Sperrklausel abzielt, nicht. Ihr Ziel ist eine Fraktionsgemeinschaft. Damit geht sie über ein reines Wahlbündnis hinaus, das lediglich erreichen will, dass beide Parteien im Parlament vertreten sind. Auch bezieht sie sich im Unterschied zu einer Koalitionsaussage nicht lediglich auf eine Zusammenarbeit im Fall der Regierungsübernahme, sondern gilt auch für den Fall der Opposition. Die Kooperation betrifft also unmittelbar die Tätigkeit im Bundestag selbst und umfasst sämtliche Parlamentsfunktionen. Durch die Bildung einer gemeinsamen Fraktion ordnen sich die Abgeordneten der beteiligten Parteien den parlamentarischen Organisationsstrukturen unter, indem sie nicht einzeln, sondern nur gemeinsam die Rechte und Pflichten einer Fraktion wahrnehmen. Dies bezweckt, gemeinsam eine politische Strömung im Parlament zu repräsentieren.
Werden Parteien, die in dieser Form kooperieren, bei der Anwendung der Sperrklausel gemeinsam berücksichtigt, stellt dies eine Ungleichbehandlung gegenüber anderen Parteien dar. Sie erhalten – anders als andere Parteien – auch dann Bundestagsmandate, wenn jede Partei für sich die Voraussetzung des § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BWahlG nicht erfüllt. Es kann offen bleiben, inwieweit die gemeinsame Berücksichtigung von Parteien bei der Überwindung der Sperrklausel gerechtfertigt ist, wenn lediglich einzelne der drei Voraussetzungen vorliegen. Jedenfalls gemeinsam rechtfertigen sie unter den gegenwärtigen rechtlichen und tatsächlichen Bedingungen die Bevorzugung einer Kooperation, wie sie CSU und CDU praktizieren. Der Gesetzgeber ist zwar verpflichtet, die Sperrklausel so auszugestalten, dass sie unter den derzeitigen rechtlichen und tatsächlichen Bedingungen nicht über das zur Sicherung der Funktionsfähigkeit des Bundestages Erforderliche hinausgeht. Er ist aber nicht auf die Einführung einer Möglichkeit der gemeinsamen Berücksichtigung zweier, in der dargestellten Form kooperierender Parteien beschränkt. Vielmehr kann er die Sperrklausel auch in anderer Weise modifizieren.
Die Verfassungsbeschwerden sind – soweit sie zulässig sind – begründet. § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BWahlG verletzt das Recht der Beschwerdeführenden aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG. Der Organklageantrag der CSU ist begründet. Der Beschluss des Bundestages am 17. März 2023, mit dem er das Gesetz zur Änderung des BWahlG angenommen hat, verletzt sie in ihrem Recht auf Chancengleichheit. Die Bedingungen, unter denen die Sperrklausel über das zur Sicherung der Funktionsfähigkeit des Parlaments Erforderliche hinausgeht, treffen auf sie zu. Der Organklageantrag der Partei DIE LINKE ist unbegründet. Sie wird durch den festgestellten Verfassungsverstoß nicht in ihren eigenen Rechten verletzt. Ihre Abgeordneten bilden keine gemeinsame Fraktion mit denen einer anderen Partei. Es ist auch nicht erkennbar, dass sie eine solche beabsichtigt. Die Maßgabe zur Fortgeltung der Sperrklausel unter Rückgriff auf die Wahlkreisklausel des Gesetzentwurfs ist den Parteien sowie den Wählerinnen und Wählern bekannt und stärkt überdies das Vertrauen darauf, dass die Wahlrechtsreform keine Partei benachteiligt.
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Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)
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