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Die beitragsrechtlichen Vorschriften der Pflegeversicherung, nach denen Eltern und Kinderlose gleichermaßen mit dem bundeseinheitlichen Beitragssatz von 1,7 % belastet werden, sind nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Dies hat das Bundesverfassungsgericht entschieden. Es hat dem Gesetzgeber aufgegeben, längstens bis zum 31. Dezember 2004 eine Regelung zu schaffen, welche die Kindererziehungsleistung in der umlagefinanzierten sozialen Pflegeversicherung bei der Beitragsbemessung berücksichtigt.
Der Bf, ein verheirateter Vater von zehn Kindern, hat sich dagegen gewandt, dass Betreuung und Erziehung von Kindern bei der Bemessung des Beitrags zur sozialen Pflegeversicherung nicht berücksichtigt werden. Dies verletze insbesondere Art. 3 und 6 GG sowie das Rechts- und Sozialstaatsprinzip.
Nach dem Urteil ist es mit Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG nicht zu vereinbaren, dass Mitglieder der sozialen Pflegeversicherung, die Kinder betreuen und erziehen, mit einem gleich hohen Pflegeversicherungsbeitrag wie Mitglieder ohne Kinder belastet werden. Die entsprechenden Regelungen des SGB XI (§ 54 Abs. 1 und 2, § 55 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2, § 57 SGB XI) sind mit dem GG nicht vereinbar. Sie können bis zu einer Neuregelung, längstens bis zum 31. Dezember 2004, weiter angewendet werden.
1. Der Senat stellt zunächst klar, dass die Pflicht zur Förderung der Familie aus Art. 6 Abs. 1 GG nicht bereits dadurch verletzt wird, dass überhaupt Beiträge zur sozialen Pflegeversicherung von Eltern, die Kinder betreuen und erziehen, verlangt werden. Zwar werden Familien von finanziellen Belastungen, die der Staat seinen Bürgern auferlegt, regelmäßig stärker betroffen als Kinderlose. Sie haben den Unterhaltsanspruch ihrer Kinder zu finanzieren, können jedoch andererseits durch die Kinderbetreuung nicht in gleichem Umfang erwerbstätig sein wie Kinderlose oder müssen die Fremdbetreuung ihrer Kinder bezahlen. Aus Art. 6 Abs. 1 GG folgt aber nicht, dass der Staat jede zusätzliche finanzielle Belastung von Familien vermeiden muss. Es ist daher nicht verfassungswidrig, dass der Erzieler des Familieneinkommens beitragspflichtig ist; der Staat muss diese Beitragslast auch nicht ausgleichen. Ob die staatliche Familienförderung offensichtlich unangemessen ist und dem Förderungsgebot aus Art. 6 Abs. 1 GG nicht mehr genügt, ist eine Frage der Gesamtabwägung. Art. 6 i.V. m. dem Sozialstaatsgebot gibt lediglich eine allgemeine Pflicht zum Familienlastenausgleich vor. Es liegt innerhalb des Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers, wie er dieser Pflicht nachkommt. Mit einer Regelung, nach der auch Familien Beiträge zur sozialen Pflegeversicherung zahlen müssen, sind die Grenzen des Gestaltungsspielraums nicht überschritten.
2. Eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG lässt sich auf der Leistungsseite der sozialen Pflegeversicherung ebenfalls nicht feststellen. Kinderlose erhalten im Durchschnitt nicht mehr Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung als Eltern.
Der Senat setzt sich in diesem Zusammenhang insbesondere mit der Frage auseinander, ob der Aufwand der Pflegeversicherung bei Pflegebedürftigen, die Kinder erzogen haben, geringer ist als bei Kinderlosen. Unterschiede sind insofern bei stationärer Pflege nicht nachweisbar. Es liegen keine Daten vor, die dafür sprechen, dass Kinderlose häufiger stationäre Pflege in Anspruch nehmen als Pflegebedürftige mit Kindern.
Allerdings bestehen bei der ambulanten Pflege Unterschiede. Die Gesamtausgaben für kinderlose Pflegebedürftige ab 60 liegen rund 10 % höher als die Ausgaben für die gleiche Altersgruppe mit Kindern. Dies kann darin begründet sein, dass Pflegebedürftige für pflegende Töchter und Schwiegertöchter nur das niedrigere Pflegegeld nach der Pflegeversicherung beziehen, während Kinderlose häufiger die Sachleistungen durch professionelle Pflegedienste in Anspruch nehmen. Insgesamt sind die Mehrausgaben für Kinderlose in den höheren Altersgruppen jedoch maßvoll. Es ist gerade Ausdruck des solidarischen Ausgleichs durch die Pflegeversicherung, Pflegeleistungen für solche Menschen zur Verfügung zu stellen, die nicht auf pflegende Familienangehörige zurückgreifen können. Außerdem kann für die Zukunft nicht zuverlässig angenommen werden, dass Pflegebedürftige von ihren Kindern gepflegt werden.
3. Der Erste Senat stellt jedoch eine verfassungswidrige Benachteiligung von Eltern auf der Beitragsseite der sozialen Pflegeversicherung fest. Er geht dabei davon aus, dass das Risiko, pflegebedürftig zu werden, jenseits der 60 deutlich und jenseits der 80 sprunghaft ansteigt. Pflegebedürftige sind deshalb auf die Pflegeversicherungsbeiträge der nachwachsenden Generation angewiesen. Auf Grund dieses Umlagesystems profitieren die Kinderlosen von der Erziehungsleistung der Eltern. Beide sind darauf angewiesen, dass genug Kinder nachwachsen, die in der Zukunft Beiträge zahlen und ihre Pflege finanzieren. Dies ist unabhängig davon, ob sie selbst Kinder erzogen und damit zum Erhalt des Beitragszahlerbestandes beigetragen haben oder nicht. Kinderlosen, die lediglich Beiträge gezahlt, zum Erhalt des Beitragszahlerbestandes aber nichts beigetragen haben, erwächst daher ein Vorteil. Zwar finanzieren sie mit ihren Beiträgen auch die Abdeckung des Pflegerisikos der beitragsfrei versicherten Ehegatten und Kinder mit. Insgesamt wird der Vorteil, den Kinderlose durch das Aufziehen der nächsten Generation erlangen, durch die Umlage für die Familienversicherten aber nicht aufgezehrt.
Dieser systemspezifische Vorteil für Kinderlose in der sozialen Pflegeversicherung unterscheidet sich von dem Wohl, das aus der Erziehung und Betreuung von Kindern für die Gesellschaft im Allgemeinen erwächst. Kindererziehung liegt im gesellschaftlichen Interesse. Das allein gebietet noch nicht, sie in einem bestimmten sozialen Leistungssystem von Verfassungs wegen zu berücksichtigen. Wenn aber das Leistungssystem ein altersspezifisches Risiko abdeckt und so finanziert wird, dass die jeweils erwerbstätige Generation die Kosten für vorangegangene Generationen mittragen muss, ist für das System nicht nur die Beitragszahlung, sondern auch die Kindererziehung konstitutiv. Wird die zweite Komponente nicht mehr regelmäßig von allen geleistet, werden Eltern spezifisch in diesem System belastet, was deshalb auch innerhalb des Systems ausgeglichen werden muss.
Allerdings kann der Gesetzgeber die Benachteiligung von Eltern solange vernachlässigen, wie eine deutliche Mehrheit der Versicherten Kinder bekommt und betreut. Dies folgt aus dem Recht des Gesetzgebers zur Generalisierung. Trägt die große Mehrheit der Beitragszahler daneben durch Erziehung und Betreuung von Kindern zum System bei, ist das System im Großen und Ganzen im generativen Gleichgewicht. Solange liegt es auch innerhalb des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums, die Beiträge nicht danach zu differenzieren, ob Kinder erzogen werden oder nicht. Die Einführung des SGB XI im Jahr 1994 ohne Kindererziehungskomponente überschreitet jedoch den gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum. Denn schon 1994 war bekannt, dass die Zahl der Kinderlosen in der Gesellschaft drastisch ansteigt. Der Gesetzgeber konnte nicht davon ausgehen, dass die große Mehrheit der Versicherten sowohl Beiträge zahlen als auch Kinder erziehen würde. Der Senat setzt sich mit den von den Sachverständigen vorgelegten Statistiken über die Bevölkerungsentwicklung auseinander, die ein deutliches Absinken der Bevölkerung und eine Veränderung der Altersstruktur prognostizieren. Bereits 1989 ging das Statistische Bundesamt davon aus, dass die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland bis zum Jahr 2030 um 10 % zurückgehen und ein Drittel der Bewohner 60 Jahre und älter sein würde. Es war abzusehen, dass die Relation zwischen jüngeren Beitragszahlern und älteren Pflegebedürftigen sich stetig verschlechtert. Andererseits ist nicht zu erwarten, dass das Pflegerisiko älterer Menschen wesentlich sinken wird.
Insgesamt müssen weniger Beitragszahler die Pflege der älteren Generation finanzieren und die Kosten der Kindererziehung tragen. Ein gleicher Versicherungsbeitrag führt damit zu erkennbarem Ungleichgewicht zwischen dem Gesamtbeitrag der Eltern (Kindererziehung und Geldbeitrag) und dem Geldbeitrag der Kinderlosen. Die hieraus resultierende Benachteiligung von Eltern ist im Beitragsrecht auszugleichen.
4. Da dem Gesetzgeber mehrere Möglichkeiten zur Beseitigung der Verfassungswidrigkeit der bestehenden Regelung offen stehen, sind die einschlägigen Normen nur als unvereinbar mit dem GG zu erklären. Sie können ausnahmsweise bis zum 31. Dezember 2004 weiter angewendet werden. Dies resultiert aus dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit und dem Umstand, dass der Gesetzgeber prüfen muss, welche Wege einer verfassungsgemäßen Gestaltung der Pflegeversicherung in Betracht kommen. Bei der Bemessung der Frist hat der Senat berücksichtigt, dass die Bedeutung der Entscheidung auch für andere Zweige der Sozialversicherung zu prüfen ist.
Wie der Gesetzgeber die erforderliche relative Entlastung der kindererziehenden Beitragszahler vornimmt, kann er im Rahmen seines Spielraums selbst entscheiden. Sie muss aber den Eltern während der Zeit zugute kommen, in der sie Kinder betreuen und erziehen. Der Ausgleich kann nicht durch unterschiedliche Leistungen im Falle der Pflegebedürftigkeit erfolgen. Es ist geboten, bereits die Unterhaltspflicht gegenüber einem Kind zu berücksichtigen.
Es ist mit Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 GG nicht zu vereinbaren, dass Mitglieder der sozialen Pflegeversicherung, die Kinder betreuen und erziehen und damit neben dem Geldbeitrag einen generativen Beitrag zur Funktionsfähigkeit eines umlagefinanzierten Sozialversicherungssystems leisten, mit einem gleich hohen Pflegeversicherungsbeitrag wie Mitglieder ohne Kinder belastet werden.
© kostenlose-urteile.de (ra-online GmbH), Berlin 04.10.2005
Quelle: ra-online, Pressemitteilung des BVerfG vom 03.04.2001
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Dokument-Nr. 5683
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