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Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 11.11.2008
1 BvL 3/05, 1 BvL 4/05, 1 BvL 5/05, 1 BvL 6/05, 1 BvL 7/05 -

Begünstigung von Versicherten mit 45 Pflichtbeitragsjahren und Rentenabschläge bei vorzeitigem Bezug sind verfassungsgemäß

Das Bundesverfassungsgericht entschied über fünf Vorlagen des Bundessozialgerichts, die den vorzeitigen Bezug von Altersrenten betreffen. Der Senat sah es mit dem allgemeinen Gleichheitssatz als vereinbar an, dass Versicherte, die vor dem 1. Januar 1942 geboren sind und 45 Pflichtbeitragsjahre in der Rentenversicherung erreicht haben, beim Bezug einer Altersrente gesetzlich begünstigt werden. Gleichzeitig stellten die Richter fest, dass die Kürzung der Altersrente bei vorzeitiger Inanspruchnahme weder die Eigentumsgarantie noch den Gleichheitsgrundsatz verletzt.

Die Kläger der fünf Ausgangsverfahren beantragten vorzeitig eine Altersrente wegen Arbeitslosigkeit oder nach Altersteilzeitarbeit gem. § 237 SGB VI ab Vollendung ihres 60. Lebensjahres und erhielten aufgrund des geminderten Zugangsfaktors nur eine gekürzte Rentenleistung. Vier der Kläger waren vor dem 1. Januar 1942 geboren, ihnen fehlte jedoch für einen günstigeren Rentenbezug die Voraussetzung von 45 Pflichtbeitragsjahren. Das Bundessozialgericht hat alle Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht die Frage, ob die oben dargestellten Vorschriften mit dem Grundgesetz vereinbar sind, zur Entscheidung vorgelegt.

Im Wesentlichen liegen der Entscheidung folgende Erwägungen zugrunde:

§ 237 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 SGB VI verletzt nicht Art. 3 Abs. 1 GG. Versicherte in der gesetzlichen Rentenversicherung können weiterhin die günstigen niedrigeren Altersgrenzen nach dem Rentenreformgesetz 1992 beanspruchen, wenn sie vor dem 1. Januar 1942 geboren sind und in ihrem Versichertenkonto 45 Pflichtbeitragsjahre aufweisen. Dadurch vermindert sich bezogen auf ein bestimmtes Lebensalter die Anzahl von Monaten eines vorzeitigen Rentenbezugs, was zu einer geringeren Kürzung des Zugangsfaktors nach § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe a SGB VI als für andere Versicherte im gleichen Lebensalter führt und zur Folge hat, dass in die Rentenformel persönliche Entgeltpunkte in einem größeren Umfang eingestellt werden als für die übrigen Versicherten. Die Differenzierung danach, ob ein Versicherter 45 Pflichtbeitragsjahre aufweisen kann, führt damit zu einer Ungleichbehandlung zweier Gruppen von Versicherten. Diese ist aber sachlich gerechtfertigt, weil der Gesetzgeber mit dem Erfordernis von 45 Pflichtbeitragsjahren eine zeitliche Anspruchsvoraussetzung geschaffen hat, die dem System der gesetzlichen Rentenversicherung nicht fremd ist. Der Umfang von Versicherungszeiten ist in der gesetzlichen Rentenversicherung seit jeher ein die Entstehung und Berechnung der Renten bestimmender Faktor. Auch eine Versicherungszeit von 45 Jahren ist in der gesetzlichen Rentenversicherung als Berechnungsfaktor nicht unüblich: Dabei dient der sog. "Eckrentner", also der Versicherte, der über 45 Jahre hinweg Beiträge aus dem sich jedes Jahr ändernden jährlichen Durchschnittsverdienst aller Versicherten in die gesetzliche Rentenversicherung abführt, als Vergleichsgröße, um die Entwicklung der Rentenhöhen in der gesetzlichen Rentenversicherung über die Jahre verfolgen zu können. Die Privilegierung von Versicherten mit 45 Pflichtbeitragsjahren ist durch deren dauerhafte und berechenbare Beitragsleistung zur Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung gerechtfertigt. Pflichtversicherte in der gesetzlichen Rentenversicherung haben in der Regel nach Beitragszeit, Beitragsdichte und Beitragshöhe in wesentlich stärkerem Maße zur Versichertengemeinschaft beigetragen und konnten dabei im Gegensatz zu freiwillig Versicherten nicht ausweichen. Die Pflichtversicherten, mit deren Beiträgen die Rentenversicherung dauerhaft und kalkulierbar rechnen kann, sind insofern die tragende Säule der Finanzierung des Systems der gesetzlichen Rentenversicherung.

§ 237 Abs. 3 in Verbindung mit § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe a SGB VI verstößt ebenfalls nicht gegen Verfassungsrecht. Die Vorschriften über die Bestimmung von Abschlägen bei vorzeitiger Inanspruchnahme einer Altersrente wegen Arbeitslosigkeit oder nach Altersteilzeitarbeit bilden eine zulässige Inhalts- und Schrankenbestimmung nach Art. 14 Abs. 1 GG. Die in den Abschlagsregelungen liegende Einschränkung der Anwartschaft ist durch Gründe des Allgemeinwohls gerechtfertigt und entspricht den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Der Kürzung von Rentenanwartschaften steht die Kostenneutralität des vorzeitigen Rentenbezugs für die Versichertengemeinschaft und damit die Sicherung der Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung gegenüber. Der Gesetzgeber hat mit der Einführung eines die vorgezogene Altersrente kürzenden Zugangsfaktors ein Mittel gewählt, das die vor dem Rentenreformgesetz 1992 alle Versicherten belastenden Kosten des vorzeitigen Altersrentenbezugs allein denjenigen Versicherten auferlegt, die tatsächlich früher eine Altersrente beziehen. Es lag auch im Ge-staltungsermessen des Gesetzgebers, die Bestimmung des Zugangsfaktors nach § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe a SGB VI nach den von ihm gewählten versicherungsmathematischen Berechnungen vorzunehmen. Der Gesetzgeber ist bei der Bestimmung der Rechengrößen für die vorgezogene Rente gemessen an seinem Konzept weder an der Realität vorbei gegangen noch hat er die Zahlen willkürlich bestimmt. Außerdem sind mit dem vorzeitigen Bezug die Vorteile eines früheren Ruhestands verbunden. In allen fünf Ausgangsverfahren konnten Versicherte bei der Entscheidung über den mit Abschlägen verbundenen Rentenzugang uneingeschränkt über den Zeitpunkt ihrer Rentenantragstellung bestimmen und damit selbst auf die Höhe der schläge Einfluss nehmen. Diesem Zuwachs an individueller Freiheit im Alter steht eine dauerhafte Rentenkürzung für den früheren Renteneintritt sachgerecht gegenüber.

Die Einführung des mit dauerhaften Kürzungen der Altersrente bei vorzeitigem Rentenbezug verbundenen Zugangsfaktors genügt auch dem rechtsstaatlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes. Die in den Jahren 1941 und 1942 geborenen Kläger der Ausgangsverfahren mussten damit rechnen, dass der Gesetzgeber angesichts der angespannten finanziellen Situation der gesetzlichen Rentenversicherung in den 1990er Jahren gehalten sein könnte, zur Sicherung der Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung noch weitergehende Änderungen an dem zunächst langfristig angelegten Übergangskonzept des Rentenreformgesetzes 1992 vorzunehmen. Ein schutzwürdiges Vertrauen in den Bestand von Modalitäten der Übergangsregelung konnte insofern unter diesen Umständen nicht entstehen.

Soweit Gegenstand der Vorlagefrage Art. 3 Abs. 1 GG war und das Bundessozialgericht darauf abstellt, dass eine Rentenkürzung auch dann noch erfolgt, wenn der individuelle Vorteil eines vorzeitigen Rentenbezugs mit 87 Jahren und 10 Monaten rechnerisch ausgeglichen sein wird, läuft dieses Argument schon den Grundprinzipien der gesetzlichen Rentenversicherung als einer Solidargemeinschaft zuwider. Es findet insofern wie in jeder Versicherung ein Risikoausgleich innerhalb der Versichertengemeinschaft statt. Zudem ist zu berücksichtigen, dass nach der Sterbetafel 2005/2007 die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland zwar zugenommen, die durchschnittliche Gesamtlebensdauer 60-jähriger Versicherter aber nach den maßgeblichen Statistiken immer noch deutlich unter der vom Bundessozialgericht errechneten Grenze von 87 Jahren und 10 Monaten liegt.

© kostenlose-urteile.de (ra-online GmbH), Berlin 04.12.2008
Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 102/08 des BVerfG vom 04.12.2008

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