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Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 24.11.2010
1 BvF 2/05 -

BVerfG: Strenges Gentechnikgesetz ist verfassungsgemäß - Keine Lockerung des Gentechnikgesetzes

Normenkontrollantrag des Landes Sachsen-Anhalt in Sachen "Gentechnikgesetz" erfolglos

Die derzeit geltenden strengen Vorschriften für den Einsatz von Gentechnik in der Landwirtschaft sind verfassungsgemäß. Dies hat das Bundesverfassungsgericht entschieden. Damit blieb ein Normenkontrollantrag der Landesregierung von Sachsen-Anhalt gegen Bestimmungen des Gesetzes zur Regelung der Gentechnik erfolglos. Sachsen-Anhalt hatte mehrere restriktive Bestimmungen des Gentechnikgesetzes des Bundes als verfassungswidrig eingeschätzt.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil in dem Normenkontrollverfahren der Landesregierung von Sachsen-Anhalt gegen Bestimmungen des Gesetzes zur Regelung der Gentechnik (GenTG) über

- die Begriffsbestimmungen "gentechnisch veränderter Organismus" und "Inverkehrbringen" (§ 3 Nummern 3 und 6 GenTG),

- das Standortregister (§ 16 a GenTG),

- den Umgang mit in Verkehr gebrachten Produkten (§ 16 b GenTG) und

- Ansprüche bei Nutzungsbeeinträchtigungen (§ 36 a GenTG)

verkündet und festgestellt, dass § 3 Nummern 3 und 6, § 16 a Absätze 1 bis 5, § 16 b Absätze 1 bis 4 und § 36 a des Gesetzes zur Regelung der Gentechnik in der zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes zur Änderung des Gentechnikgesetzes, zur Änderung des EG-Gentechnik-Durchführungsgesetzes und zur Änderung der Neuartige Lebensmittel- und Lebensmittelzutatenverordnung vom 1. April 2008 (Bundesgesetzblatt I Seite 499) geänderten Fassung mit dem Grundgesetz vereinbar sind.

Normen formell und materiell verfassungsgemäß

Die angegriffenen Normen sind formell und materiell verfassungsgemäß

Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes folgt aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 26. Alternative GG, der eine umfassende Zuständigkeit des Bundesgesetzgebers zur Regelung des Rechts der Gentechnik begründet, welche neben der Humangentechnik auch die Gentechnik in Bezug auf Tiere und Pflanzen umfasst.

Soweit die angegriffenen Vorschriften in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG), die Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG), die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) und das Eigentum (Art. 14 Abs. 1 GG) eingreifen, ist dies gerechtfertigt.

Gesetzgeber muss großzügiger Entscheidungsspielraum zugestanden werden

Der Gesetzgeber verfolgt mit den angegriffenen Regelungen legitime Ziele des Gemeinwohls, bei deren Verwirklichung ihm gerade vor dem Hintergrund der breiten gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Debatte um den Einsatz von Gentechnik und eine angemessene staatliche Regulierung ein großzügiger Entscheidungsspielraum zugestanden werden muss.

Folgen der Gentechnik noch nicht absehbar

Mit der Möglichkeit, gezielt Veränderungen des Erbgutes vorzunehmen, greift die Gentechnik in die elementaren Strukturen des Lebens ein. Die Folgen solcher Eingriffe lassen sich, wenn überhaupt, nur schwer wieder rückgängig machen. Die Ausbreitung einmal in die Umwelt ausgebrachten gentechnisch veränderten Materials ist nur schwer oder auch gar nicht begrenzbar. Angesichts eines noch nicht endgültig geklärten Erkenntnisstandes der Wissenschaft bei der Beurteilung der langfristigen Folgen eines Einsatzes von Gentechnik trifft den Gesetzgeber eine besondere Sorgfaltspflicht. Er muss bei der Rechtssetzung nicht nur die von der Nutzung der Gentechnik einerseits und deren Regulierung andererseits betroffenen, grundrechtlich geschützten Interessen in Ausgleich bringen, sondern hat gleichermaßen den in Art. 20a GG enthaltenen Auftrag zu beachten, auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen.

Schutz der Verbraucher wird gestärkt

Mit dem bezweckten Schutz insbesondere des Menschen, der Umwelt und fremden Eigentums vor schädlichen Auswirkungen des Einsatzes von gentechnisch veränderten Organismen und der Vorsorge gegen das Entstehen solcher Gefahren (vgl. § 1 Nr. 1 GenTG), der Sicherung der Koexistenz verschiedener landwirtschaftlicher Erzeugungsformen (vgl. § 1 Nr. 2 GenTG) und dem Interessenausgleich zwischen Grundstücksnachbarn werden insbesondere menschliches Leben, Gesundheit und Umwelt sowie Eigentum und Berufsfreiheit als andernfalls gefährdete Güter von Verfassungsrang geschützt. Weitere wichtige, auch europarechtlich anerkannte Gemeinwohlbelange wie der Schutz der Verbraucher und die Information der Öffentlichkeit werden gestärkt. Insoweit leistet die mit der Einrichtung des Standortregisters angestrebte Schaffung von Transparenz im Zusammenhang mit dem gezielten Ausbringen von gentechnisch veränderten Organismen in die Umwelt einen wichtigen Beitrag zum öffentlichen Meinungsbildungsprozess und stellt einen eigenständigen und legitimen Zweck der Gesetzgebung dar. Um eine solche Transparenz herzustellen, ist es zulässig, bestimmte Daten der Öffentlichkeit allgemein und insoweit ohne weitere Bindung an bestimmte Zwecke zugänglich zu machen. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung schließt die Schaffung allgemein öffentlicher Daten - auch solcher mit Personenbezug - nicht generell aus.

Angegriffene Regelungen wahren Gebot der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn

Die angegriffenen Regelungen sind geeignet und erforderlich, diese Zwecke zu erreichen. Sie wahren auch das Gebot der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn. Mit der Neufassung der Begriffsbestimmungen "gentechnisch veränderter Organismus" und "Inverkehrbringen" (§ 3 Nummern 3 und 6 GenTG) hat der Gesetzgeber sichergestellt, dass auch genehmigte Freisetzungsversuche und ihre unbeabsichtigten Folgen den Kontroll- und Eingriffsbefugnissen des Staates und der Folgenverantwortung der Forschung nach Maßgabe des Gentechnikgesetzes unterfallen. Der Umstand, dass es sich um nicht beabsichtigte oder technisch nicht zu vermeidende Vorgänge handeln kann, mindert nicht das mit dem Ausbringen von gentechnisch veränderten Organismen in die Umwelt und der Vermarktung gentechnisch veränderter Produkte bestehende Risiko unerwünschter oder schädlicher, gegebenenfalls unumkehrbarer Auswirkungen, das im Sinn einer größtmöglichen Vorsorge beherrscht werden soll. Der Gesetzgeber liefe zudem Gefahr, seiner Verantwortung zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlage nicht gerecht zu werden.

Standortregister verletzt nicht Berufsfreiheit und informationelle Selbstbestimmung

Im Standortregister werden für das gesamte Bundesgebiet Angaben über Freisetzungen und Anbau von gentechnisch veränderten Organismen erfasst, um die Überwachung von etwaigen Auswirkungen dieser Organismen insbesondere auf den Menschen, die Umwelt und die gentechnikfreie Landwirtschaft zu ermöglichen und die Öffentlichkeit zu informieren. Mit der Aufteilung des Standortregisters (§ 16 a GenTG) in einen allgemein zugänglichen und einen nicht allgemein zugänglichen Teil hat der Gesetzgeber einen tragfähigen und aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht zu beanstandenden Kompromiss zwischen dem Informationsinteresse des Staates und der Öffentlichkeit einerseits und dem Geheimhaltungsinteresse der Bezugspersonen andererseits gefunden. Der gesetzlichen Regelung kann insbesondere nicht entgegengehalten werden, dass durch das Standortregister die Wahrscheinlichkeit mutwilliger Zerstörungen von gentechnisch veränderten Kulturen erhöht werde. Bereits vor dessen Einführung kam es wiederholt zu Behinderungen von Freisetzungen und Anbau von gentechnisch veränderten Organismen, denen mit den Mitteln des Polizei- und Strafrechts zu begegnen ist.

Regelungen über Umgang mit in Verkehr gebrachten Produkten lassen genug Spielraum für Einzelfallentscheidungen

Die angegriffenen Regelungen über den Umgang mit in Verkehr gebrachten Produkten in § 16 b GenTG lassen den Behörden und Fachgerichten genügend Spielraum, um eine verhältnismäßige Anwendung der Vorsorgepflicht, der guten fachlichen Praxis und der Anforderungen an die Eignung von Person und Ausstattung im Einzelfall sicherzustellen. Dies betrifft insbesondere die Frage, was im Einzelfall zur Vorsorgepflicht und guten fachlichen Praxis gehört. Die insoweit allgemein gehaltenen Vorgaben lassen es zu, die tatsächlichen Rahmenbedingungen des Umgangs mit gentechnisch veränderten Organismen angemessen zu berücksichtigen und den Inhalt der Pflichten auf das Maß zu beschränken, welches jeweils zur Vermeidung wesentlicher Beeinträchtigungen der Schutzgüter des § 1 Nr. 1 und 2 GenTG erforderlich ist.

Ergänzung und Konkretisierung des privaten Nachbarrechts trägt zu Wahlfreiheit der Produzenten und Verbraucher bei

§ 36 a GenTG begründet keine neuartige Sonderhaftung für den Einsatz von gentechnisch veränderten Organismen, sondern konkretisiert und ergänzt die bestehende verschuldensunabhängige Störerhaftung im privaten Nachbarrecht (§§ 1004, 906 BGB), in deren Systematik sich die Vorschrift einfügt. Diese Ergänzung und Konkretisierung des privaten Nachbarrechts stellt einen angemessenen und ausgewogenen Ausgleich der widerstreitenden Interessen dar, indem sie zu einem verträglichen Nebeneinander konventioneller, ökologischer und mit dem Einsatz von Gentechnik arbeitender Produktionsmethoden und einer echten Wahlfreiheit der Produzenten und Verbraucher beiträgt.

Grenze der Zumutbarkeit ist für Betroffene der Norm nicht überschritten

Insgesamt ist die vom Gesetzgeber jeweils vorgenommene Gewichtung zugunsten der verfolgten Gemeinwohlziele gerade vor dem Hintergrund der noch nicht abschließend geklärten Auswirkungen der Gentechnik nicht zu beanstanden und die Grenze der Zumutbarkeit ist für die Normadressaten - auch soweit sie zu Forschungszwecken handeln - nicht überschritten.

Mögliche Ungleichbehandlung durch die vom Gesetzgeber verfolgten Gemeinwohlziele gerechtfertigt

Auch der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG ist nicht verletzt. Soweit es zu einer Ungleichbehandlung von Sachverhalten kommt, beruht dies auf tatsächlichen und rechtlichen Besonderheiten des Einsatzes von Gentechnik und ist durch die vom Gesetzgeber verfolgten Gemeinwohlziele gerechtfertigt.

© kostenlose-urteile.de (ra-online GmbH), Berlin 24.11.2010
Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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