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Der Große Senat für Strafsachen des Bundesgerichtshofs hatte aufgrund einer Vorlage des 1. Strafsenats über die Frage zu entscheiden, inwieweit das Revisionsgericht eine nachträgliche Berichtigung des tatrichterlichen Hauptverhandlungsprotokolls auch zum Nachteil des Revisionsführers zu berücksichtigen hat.
Der Vorlage lag ein Urteil des Landgerichts München I zugrunde, durch das der Angeklagte wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt wurde. Nach den Urteilsfeststellungen hatte er in einem Oktoberfestzelt einem anderen Mann mit einem schweren gläsernen Krug zweimal wuchtig auf den Hinterkopf und einmal in den Nackenbereich geschlagen. Der Angeklagte hat gegen das Urteil das Rechtsmittel der Revision eingelegt und beanstandet das Verfahren vor der Strafkammer des Landgerichts als fehlerhaft. Er behauptet, in der Hauptverhandlung habe der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft nicht den Anklagesatz verlesen und damit gegen zwingendes Verfahrensrecht verstoßen; dies ergebe sich unwiderlegbar aus dem von dem Strafkammervorsitzenden und der Urkundsbeamtin erstellten Hauptverhandlungsprotokoll. Erst nachdem der Angeklagte mit der Revision diesen – vermeintlichen – Verfahrensfehler formal ordnungsgemäß gerügt hatte, haben der Vorsitzende und die Urkundsbeamtin das Hauptverhandlungsprotokoll dahin berichtigt, dass der Anklagesatz verlesen worden sei. Die Urkundsbeamtin hat auf einen ihr bei der Fertigung der Protokollreinschrift unterlaufenen Übertragungsfehler aus den teilweise stenographischen Aufzeichnungen während der Hauptverhandlung verwiesen. Vor der Protokollberichtigung hat der Vorsitzende dienstliche Stellungnahmen der anderen Richter und des Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft eingeholt. So hat ein Richter dahingehend Stellung genommen, dass er sich deswegen so genau an die Verlesung des Anklagesatzes erinnern könne, weil die von der Staatsanwaltschaft vorgenommene rechtliche Bewertung des Tatgeschehens als versuchter Totschlag Unmutsäußerungen im Publikum ausgelöst habe. Auch der Verteidiger hat der Protokollberichtigung nicht substantiiert widersprochen.
Nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs war im strafrechtlichen Revisionsverfahren eine nachträgliche Protokollberichtigung dann unbeachtlich, wenn sie einer zulässig erhobenen Verfahrensrüge die Tatsachengrundlage entzieht (sog. Verbot der Rügeverkümmerung). Der 1. Strafsenat wäre auf der Grundlage dieser Rechtsprechung gehalten gewesen, das Urteil wegen eines tatsächlich nicht geschehenen Verfahrensfehlers aufzuheben und die Sache an das Landgericht zurückzuweisen. Der Große Senat für Strafsachen hat diese Rechtsprechung nunmehr jedoch aufgegeben. Er hat entschieden, dass durch eine Berichtigung des Protokolls auch zum Nachteil des Revisionsführers einer bereits ordnungsgemäß erhobenen Verfahrensrüge die Tatsachengrundlage entzogen werden kann. Um einer etwaigen Gefahr "falscher Protokollberichtigungen" vorzubeugen, sind im Berichtigungsverfahren der Revisionsführer anzuhören und gegebenenfalls weitere Verfahrensbeteiligte zu befragen. Die Berichtigungsentscheidung ist, falls der Revisionsführer substantiiert widerspricht, mit Gründen zu versehen. Das Revisionsgericht überprüft die Protokollberichtigung und versagt ihr, falls Zweifel verbleiben, die Anerkennung.
Der Große Senat für Strafsachen hebt hervor, dass auch die Revisionsgerichte der Wahrheit verpflichtet sind. Deswegen ist die strafprozessuale Vorschrift über die Beweiskraft des Hauptverhandlungsprotokolls (§ 274 StPO) so auszulegen, dass seine inhaltliche Richtigkeit gewährleistet ist. Demgegenüber sei in der Praxis zunehmend zu beobachten, dass Verteidiger unter Berufung auf ein inhaltlich unrichtiges Protokoll unwahres Vorbringen zum Gegenstand von Verfahrensrügen machen. Ein solches Verhalten habe früher nach verbreiteter Ansicht als standeswidrig gegolten; heute werde es hingegen schon als "anwaltlicher Kunstfehler" angesehen, einen Protokollierungsfehler nicht zu nutzen. Darüber hinaus hält der Große Senat eine Änderung der Rechtsprechung mit Blick auf den Beschleunigungsgrundsatz und den Opferschutz für geboten. Denn ein bloßer Protokollierungsfehler, der sich auf die Hauptverhandlung nicht ausgewirkt haben kann, könne eine – unter Umständen langwierige – Neuverhandlung gegebenenfalls mit einer für das Opfer belastenden nochmaligen Vernehmung nicht rechtfertigen. Den Schutz des Revisionsführers vor "falschen Protokollberichtigungen" und die prozessuale Waffengleichheit, mithin das Grundecht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG), sieht der Große Senat insbesondere auch dadurch gewährleistet, dass Rechte des Revisionsführers im Protokollberichtigungsverfahren zu wahren sind und die Berichtigung der Überprüfung durch das Revisionsgericht unterliegt.
Text des § 274 StPO (Beweiskraft des Protokolls)
1Die Beobachtung der für die Hauptverhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten kann nur durch das Protokoll bewiesen werden. 2Gegen den diese Förmlichkeiten betreffenden Inhalt des Protokolls ist nur der Nachweis der Fälschung zulässig.
StPO § 274
1. Durch eine zulässige Berichtigung des Protokolls kann auch zum Nachteil des Beschwerdeführers einer bereits ordnungsgemäß erhobenen Verfahrensrüge die Tatsachengrundlage entzogen werden.
2. Die Urkundspersonen haben in einem solchen Fall vor einer beabsichtigten Protokollberichtigung zunächst den Beschwerdeführer anzuhören. Widerspricht er der beabsichtigten Berichtigung substantiiert, sind erforderlichenfalls weitere Verfahrensbeteiligte zu befragen. Halten die Urkundspersonen trotz des Widerspruchs an der Protokollberichtigung fest, ist ihre Entscheidung hierüber mit Gründen zu versehen.
3. Die Beachtlichkeit der Protokollberichtigung unterliegt im Rahmen der erho-benen Verfahrensrüge der Überprüfung durch das Revisionsgericht. Im Zweifel gilt insoweit das Protokoll in der nicht berichtigten Fassung.
© kostenlose-urteile.de (ra-online GmbH), Berlin 22.06.2007
Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 75/07 des BGH vom 18.06.2007
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