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Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 13.07.2006
6 AZR 198/06 -

Ungültige Kündigung bei nicht rechtzeitiger Massenentlassungsanzeige

BAG verweist Rechtsstreit an LAG zurück

Mit Urteil vom 27. Januar 2005 hat der Europäische Gerichtshof in der Rechtssache „Junk“ die Massenentlassungsrichtlinie 98/59/EG (MERL), die durch die §§ 17 ff. KSchG in das deutsche Arbeitsrecht umgesetzt worden ist, dahin ausgelegt, dass die Kündigungserklärung des Arbeitgebers als „Entlassung“ im Sinne der MERL anzusehen ist.

Unter Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung hat das Bundesarbeitsgericht mit Urteil vom 23. März 2006 die Regelung des § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG richtlinienkonform ausgelegt und entschieden, dass die Anzeige bei der Agentur für Arbeit rechtzeitig vor Erklärung der Kündigungen erfolgen muss. Zumindest bis zum Bekanntwerden der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs hätten die Arbeitgeber jedoch auf die ständige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und die durchgängige Verwaltungspraxis der Agenturen für Arbeit vertrauen dürfen, wonach die Anzeige auch noch nach Erklärung der Kündigungen erfolgen konnte.

Zur zeitlichen Grenze des zu gewährenden Vertrauensschutzes hat nun der Sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts entschieden, das schutzwürdige Vertrauen sei angesichts der noch im Urteil des Zweiten Senats des Bundesarbeitsgerichts vom 18. September 2003 (2 AZR 79/02) vertretenen Auffassung, § 17 KSchG könne nicht richtlinienkonform ausgelegt werden, nicht bereits mit Bekanntwerden der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes entfallen. Allerdings sei das Vertrauen des Arbeitgebers dann nicht mehr schutzwürdig, wenn die für die Anwendung und Ausführung der §§ 17 ff. KSchG zuständige Arbeitsverwaltung ihre frühere Rechtsauffassung geändert hat und dies dem Arbeitgeber bekannt sein musste.

Die Klägerin war seit 1988 bei der Firma G. GmbH als Druckvorlagenherstellerin beschäftigt. Über das Vermögen der G. GmbH wurde am 1. März 2005 das Insolvenzverfahren eröffnet und der Beklagte wurde zum Insolvenzverwalter bestellt. Dieser vereinbarte am 18. März 2005 mit dem Betriebsrat einen Interessensausgleich mit Namensliste. Gegenstand war die Personalreduzierung um 13 Mitarbeiter von zu diesem Zeitpunkt insgesamt 75 Beschäftigten. Die Klägerin ist unter den zu kündigenden Arbeitnehmern in der Namensliste aufgeführt. Ende März 2005 kündigte der Beklagte die Arbeitsverhältnisse der dort namentlich benannten Arbeitnehmer. Mit Schreiben vom 25. April 2005 erstattete er die Massenentlassungsanzeige.

Das Arbeitsgericht hat der Kündigungsschutzklage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Die Revision der Klägerin hatte Erfolg. Sie führte zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Landesarbeitsgericht. Ob im Zeitpunkt der Kündigung die Änderung der Rechtsauffassung der Arbeitsverwaltung derart bekannt gegeben war, dass von dem Beklagten Kenntnisname erwartet werden konnte, bedarf noch der Aufklärung durch das Landesarbeitsgericht.

Vorinstanz

Landesarbeitsgericht Berlin, Urteil vom 20. Dezember 2005 - 12 Sa 1463/05 -

der Leitsatz

1. § 17 Abs. 1 KSchG ist im Hinblick auf die Richtlinie RL 98/59/EG vom 20. Juli 1998 richtlinienkonform dahin auszulegen, dass die Massenentlassungsanzeige vor Erklärung der Kündigungen erstattet werden muss.

2. Wurde die Massenentlassungsanzeige im Einklang mit der früheren Rechtsprechung und Verwaltungspraxis erst nachträglich erstattet, kann sich der Arbeitgeber hinsichtlich der Wirksamkeit der Kündigungen auf Vertrauensschutz berufen, solange er von der geänderten Rechtsauffassung der Arbeitsverwaltung keine Kenntnis haben mußte.

© kostenlose-urteile.de (ra-online GmbH), Berlin 13.07.2006
Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 49/06 des BAG vom 13.07.2006

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